Ethische Gesichtspunkte für die Debatte über die Rationierung im Gesundheitswesen
11/00 Positionen und Konzepte aus dem Diakonischen Werk
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Die Debatte über die Zukunft des Gesundheitswesens hat in den letzten Jahre an Schärfe ge-wonnen. Während bis Mitte der 1990er Jahre die Gefahr einer medizinischen Überversorgung gesehen wurde, ist seit etwa zwei Jahren von Rationalisierung und Rationierung im Gesund-heitswesen die Rede. Rationierung im Gesundheitswesen würde bedeuten, dass kranken Men-schen gesundheitlich notwendige Leistungen vorenthalten werden. Das Reizwort „Rationierung“ löst in einem entwickelten Land und Sozialstaat zu Recht Beunruhigung und Besorgnis aus. Die Diakonische Konferenz hat 1999 in Trier die Brisanz der Thematik erkannt und die Einset-zung eines Ausschusses beschlossen, der Fragen der „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbereich“ beobachten und anhand ethischer Kriterien beurteilen soll. Der unter Federführung des Theologischen Ausschusses tagende Ausschuss hat der Dia-konischen Konferenz 2000 in Cottbus einen Zwischenbericht zugeleitet, der mit großer Zustim-mung aufgenommen wurde und den ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe. Die „Ethischen Gesichtspunkte für die Debatte über die Rationierung im Gesundheitswesen“ leisten einen Beitrag zur Klärung der Begrifflichkeit und zur präzisen Benennung der Probleme (I-IV). Sie dokumentieren konkrete Fälle von Rationierung aus diakonischen Arbeitsfeldern (V und Anlage) und geben ethische Kriterien an, mit deren Hilfe Rationalisierungs- und Rationie-rungsmaßnahmen beurteilt werden können (VI). Daraus ergeben sich Anforderungen an die Gesundheitspolitik (VII) sowie theologische und seelsorgerliche Überlegungen (VIII). In den Beispielen für Rationierung, die der Ausschuss anonym an die Öffentlichkeit gibt, kom-men Betroffene zur Sprache: Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte und Patienten beschreiben die Problematik aus ihrer Sicht. In den Berichten wird deutlich, dass gesundheitlich notwendige Leistungen versagt werden, um Budgets einzuhalten oder weil einer Kostenübernahme eine komplizierte Verwaltungspraxis und Rechtslage im Weg steht. Kranke Menschen und ihre An-gehörigen sind häufig nicht in der Lage sind, ihren Anspruch auf Krankenbehandlung geltend zu machen. Um einer schleichenden Rationierung im Gesundheitswesen zu wehren, muss der Umgang mit den begrenzten Ressourcen durch öffentlich verantwortete politische Entscheidungen geordnet und an ethischen Kriterien gemessen werden. Stuttgart, im November 2000 Jürgen Gohde Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland
Dem unter der Federführung des Theologischen Ausschusses der Diakonischen Konferenz arbeitenden Ausschuss „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozial-bereich“ gehören an:
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx, Theologischer Vorstand des Diakoniewerks Kaiserswerth,
Mitglied des Theologischen Ausschusses der Diakonischen Konferenz, Stellv. Vorsitzende
Prof. Dr. Martin Honecker, Theologe, Universität Bonn, Mitglied in der Zentralen Ethik-
Verwaltungsdirektor Heinz Kölking, Rotenburg/Wümme, Präsident des Verbandes
Prof. Dr. Otto Krasney, Viezepräsident des Bundessozialgerichts Kassel
Direktor Dr. Karl Dieterich Pfisterer, DWEKD (Vorsitz)
Ernst Rabenstein, Abteilung Gesundheit und Rehabilitation, DWEKD
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, Epidemiologe, Medizinische Universität Hannover
Prof. Dr. Klaus Tanner, Theologe, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Mitglied des
Theologischen Ausschusses der Diakonischen Konferenz, Mitglied der Kammer für
Cornelia Weber, Leiterin der Abteilung Gesundheit und Rehabilitation, DWEKD
Pfarrer Norbert Groß, Verbandsdirektor des Deutscher Evangelischer Krankenhausverband
Dr. Peter Bartmann, DWEKD, Theologischer Referent
Ethische Gesichtspunkte für die Debatte über die Rationierung im Gesundheits- wesen.
Bericht für die Diakonische Konferenz 2000 aus der Arbeit des Ausschusses „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbereich“
I. Rationierung im Gesundheitswesen. Zum Problem und zur Gesprächslage in der Diakonie II. Ethische Kriterien für die Gestaltung des Gesundheitswesens: Mündigkeit und Solidarität (EKD-Studie, 1994) III. Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen IV. Implizite Rationierung als aktuelles Problem V. Beispiele für Rationierung VI. Ethische Kriterien für die Beurteilung von Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen VII. Anforderungen an die Gesundheitspolitik VIII. Theologische und seelsorgerliche Überlegungen IX. Überlegungen zur weiteren Arbeit des Ausschusses X. Anhang: Beispiele expliziter und impliziter Rationierung 1. Explizite Rationierung durch die Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte-Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege gem. § 92 SGB V Grundlagen 11 Problemfelder 11 2. Verweigerung der Verschreibung bzw. Erbringung von Leistungen unter Hinweis auf Budgetgrenzen (Unterversorgung) Verweigerung einer Krebstherapie Verweigerung einer Interferon-Therapie bei Multipler Sklerose 12 Verweigerung ambulanter Infusionen durch den Hausarzt bei einem Patienten mit Neuroborreliose Verweigerung der Laborüberwachung bei Gabe von antiepileptischen Medikamenten durch den Hausarzt Verweigerung von Heilmitteln, inbes. Physiotherapie für Bewohner einer Einrichtung der Behindertenhilfe durch den Hausarzt Weigerung einer Klinikambulanz bei fortgeschrittener Anämie, ein Erythropoietin- Präparat zu verschreiben 13 Weigerung eines Hausarztes, bei Mangelerscheinung nach Dickdarmentfernung ein Magnesiumpräparat zu verschreiben 14 Schwierigkeiten bei der Verschreibung zytostatisch-wirksamer Medikamente in einer Lungenklinik 15 3. Verweis auf weniger wirksame, aber billigere Maßnahmen (z. B. Medikamente) Schizophrenie-Behandlung mit älteren Medikamenten, die hohe Nebenwirkungen haben (und höhere als die dem Stand der Forschung entsprechenden Mittel) 15 Verweigerung von neuentwickelten, im Vergleich teureren Antiepileptika 4. Zeitliche Verschiebung von Maßnahmen Verschiebung einer Kniegelenksoperation in das folgende Jahr aus Gründen des Budgets 5. Absenkung der Qualität von Maßnahmen im Bereich der Pflege 6. Vorenthalten von Leistungen durch rigide Verwaltungspraxis Unklare Zuständigkeit bzw. Verweis auf die Zuständigkeit anderer Kostenträger 17 Fehlerhafte Ermessensentscheidungen Anhang II: Michael Seidel, von-Bodelschwinghsche Anstalten, Bielefeld Zum Verhältnis von Rationierung und Rationalität am Beispiel neuer, kostenaufwendiger Antiepileptika
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
I. Rationierung im Gesundheitswesen. Zum Problem und zur Gesprächslage in der Diakonie
Das Diakonische Werk der EKD hat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Regie-rungsfraktionen zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) darauf hingewiesen, dass sich eine zunehmende Rationierung von Leistungen der GKV abzeichnet bzw. schon Rea-lität ist, ohne dass die Kriterien für die Rationierung klar benannt und reflektiert würden. Inzwi-schen wird an vielen Orten davon gesprochen, dass die von der Bundesregierung ergriffenen gesetzlichen Maßnahmen zur Rationierung von Gesundheitsleistungen führen. Was unter Rati-onierung zu verstehen ist, bleibt häufig unklar. Durch die diffuse politische Diskussionslage wird das Vertrauen in den Sozialstaat und die Gesetzliche Krankenversicherung, aber auch das Ver-trauensverhältnis der Patienten zu ihren Ärzten erschüttert. Um die Probleme klarer und in einem ethisch verantwortlichen Rahmen beurteilen zu können, hat die Diakonische Konferenz 1999 den Diakonischen Rat mit der Berufung eines Ausschus-ses beauftragt, der unter Federführung des Theologischen Ausschusses der Diakonischen Kon-ferenz theologische und ethische Kriterien für die Beurteilung von Rationalisierungs- und Ratio-nierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen und Sozialbereich erarbeiten soll.
Der Ausschuss ist nach einer Sitzung des Theologischen Ausschusses am 7. April 2000 am 20. Mai zusammengetreten und hat sich in seiner ersten Sitzung darauf verständigt, seine Ar-beit zunächst auf die Situation im Gesundheitswesen zu konzentrieren. Er hat die öffentliche Diskussion über Rationierung und Rationalisierung beobachtet und möchte mit dem vorliegen-den Zwischenbericht zur Klärung der Begrifflichkeit, zur präzisen und konkreten Benennung der Probleme sowie zur Findung von ethischen Kriterien beitragen, mit deren Hilfe Rationierungs-maßnahmen beurteilt werden können. Darüber hinaus dokumentiert der Bericht in systemati-scher Weise Fälle von Rationierung und formuliert Anforderungen an die Gesundheitspolitik sowie theologische und seelsorgerliche Überlegungen.
II. Ethische Kriterien für die Gestaltung des Gesundheitswesens: Mündigkeit und Solida- rität (EKD-Studie, 1994)
In ihrer Studie „Mündigkeit und Solidarität“ hat die Kammer der EKD für soziale Ordnung „sozi-alethische Kriterien für Umstrukturierungen im Gesundheitswesen“ erarbeitet. Mündigkeit, Ver-antwortung und Solidarität werden als die drei Hauptkriterien für die Gestaltung des Gesund-heitswesens ausgewiesen. An diesen Kriterien ist zu messen, ob das Gesundheitswesen die Eigenverantwortung und Patientenautonomie der gesunden und kranken Menschen wahrt, för-dert und in Anspruch nimmt und ob in ihm ein solidarischer Lastenausgleich zwischen gesun-den und kranken Beitragszahlern, reich und arm sowie zwischen Versicherungsnehmern und mitversicherten Familienangehörigen stattfindet. Mit dem Kriterium der Mündigkeit werden da-bei vorrangig die Verantwortung, die Pflichten und Rechte der Einzelnen erfasst, mit dem Krite-rium der Solidarität wird die Frage nach der gerechten Verteilung von Gesundheitsleistungen und entsprechenden Lasten perspektivisch beantwortet.
Mit der EKD-Studie geht die Diakonie davon aus, dass das bestehende System der Gesetzli-chen Krankenversicherung und Pflegeversicherung den genannten Kriterien im Prinzip ent-spricht. Die offenkundigen strukturellen Spannungen (bes. Kosten- und Beitragsentwicklung, Allokationsprobleme innerhalb des Gesundheitswesens) können und müssen in Orientierung an diesen drei Kriterien gelöst werden.
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
III. Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen
Die politische Diskussion über die Reform des Gesundheitswesen wird von einigen (z. B. den Regierungsparteien) unter der Annahme geführt, dass im System erhebliche Rationalisierungs-potentiale liegen. Rationalisierung bedeutet, dass eine gleichwertige Leistung zu einem geringe-ren Preis oder mehr Leistung zum gleichen Preis erzielt werden kann. Aus ethischer Sicht ist Rationalisierung im Prinzip unbedenklich, sofern keine Leistungs- und Qualitätseinbußen auftre-ten. Rationalisierungsmaßnahmen sind kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, vorgegebene Ziele unter möglichst sparsamem Einsatz der verfügbaren Ressourcen zu erreichen. Problema-tisch ist jedoch, wenn Rationalisierungsmaßnahmen aufgrund bestimmter ökonomischer Über-legungen de facto zu Leistungs- und Qualitätseinschränkungen führen.
Mit dem Begriff der Rationierungwird in der aktuellen Diskussion über das Gesundheitswesen angesprochen, dass gesundheitlich notwendige Leistungen im Rahmen der Gesetzlichen Kran-kenversicherung nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. In der Regel sind damit Leistungseinschränkungen der GKV gemeint. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, empfiehlt es sich, zwischen expliziter und impliziter Rationierung zu unterscheiden. Explizite Rationierung findet statt, wenn gesundheitlich notwendige oder zweckmäßige Leistun-gen explizit begrenzt oder ausgeschlossen werden. Beispiele sind Leistungsausschlüsse durch Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte-Krankenkassen (z. B. für die häusliche Kranken-pflege).
Unter impliziter Rationierungsind Maßnahmen zu verstehen, die zwar keine Leistung ausdrück-lich ausschließen, aber die Inanspruchnahme von gesundheitlich notwendigen Leistungen mit-telbar verhindern, z. B. durch Budgets oder bürokratische bzw. juristische Hürden beim Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens.
IV. Implizite Rationierung als aktuelles Problem
Wenn die von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Mittel im Regelfall nicht für alle nachge-fragten gesundheitlichen Leistungen ausreichen (und das ist in der Regel der Fall), stellt sich die Aufgabe der Verteilung der vorhandenen Mittel für die einzelnen Sektoren der gesundheitli-chen Versorgung. Insofern findet implizite Rationierung im Prinzip schon immer statt. Sie ist ethisch problematisch, wenn sie dazu führt, dass Menschen gesundheitlich notwendige Leis-tungen vorenthalten werden, ohne dass darüber eine klare Entscheidung auf der Grundlage ethischer Kriterien stattgefunden hätte. Diese problematische Situation ist durch die Budgetie-rung in der Gesetzlichen Krankenversicherung eingetreten. Aus ethischer Perspektive ist es erforderlich, auf implizite Rationierungsentscheidungen hinzuweisen und eine Klärung aufgrund allgemein anerkannter ethischer Grundsätze herbeizuführen. Im Folgenden werden Beispiele für explizite und implizite Rationierung aus den Arbeitsfeldern der Diakonie genannt. Im Anhang werden die entsprechenden Fälle anonym beschrieben. Sie haben dem Ausschuss „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbe-reich“ im Klartext vorgelegen und sind dort eingehend diskutiert worden. Der Ausschuss nimmt Anfragen zu den Beispielen entgegen.
Die Beispiele belegen, dass bereits jetzt einigen Kranken gesundheitlich notwendige Maßnah-men vorenthalten werden. Dies ist untragbar, da a) der gesetzliche Anspruch auf Krankenbehandlung nicht erfüllt wird,
b) der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird und
c) die Gefahr einer regelmäßigen Unterversorgung bestimmter Patientengruppen besteht, die
aufgrund ihrer Verfassung und sozialen Lage einen erschwerten Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens haben.
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
Bei den Beispielen sind zu unterscheiden -
Beschränkungen, die aufgrund von expliziten Vorschriften erfolgen (1),
Maßnahmen, die Ärzte oder Einrichtungen zur Einhaltung von Budgets ergreifen (2-5),
und Entscheidungen der Krankenkassen über die Übernahme von Kosten (6).
V. Beispiele für Rationierung
1. Explizite Rationierung durch die Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte-Krankenkassen
über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege gem. § 92 SGB V
2. Verweigerung der Verschreibung bzw. Erbringung von Leistungen unter Hinweis auf
Verweigerung einer Interferon-Therapie bei Multipler Sklerose
Verweigerung ambulanter Infusionen durch den Hausarzt bei einem Patienten mit Neu-roborreliose
Verweigerung der Laborüberwachung bei Gabe von antiepileptischen Medikamenten durch den Hausarzt
Verweigerung von Heilmitteln, bes. Physiotherapie für Bewohner einer Einrichtung der Behindertenhilfe durch den Hausarzt
Weigerung einer Klinikambulanz, bei fortgeschrittener Anämie ein Erythropoietin-Präparat zu verschreiben
Weigerung eines Hausarztes, bei Mangelerscheinungen nach Dickdarmentfernung ein Magnesium-Präparat zu verschreiben.
3. Verweis auf weniger wirksame, aber billigere Maßnahmen (z. B. Medikamente)
Schizophrenie-Behandlung mit älteren Medikamenten, die hohe Nebenwirkungen haben (und höhere als die dem Stand der Forschung entsprechenden Mittel)
Verzicht auf besonders wirksame, aber teure Antiepilektika
4. Zeitliche Verschiebung von Maßnahmen
Verschiebung einer Kniegelenksoperation in das folgende Jahr aus Gründen des Bud-gets
5. Absenkung der Qualität in der Pflege
durch Reduzierung von Personalstellen; Einstellung geringer qualifizierter Kräfte bei gleicher anspruchsvoller Tätigkeit
6. Vorenthalten von Leistungen durch rigide Verwaltungspraxis 6.1. Unklare Zuständigkeit bzw. Verweis auf die Zuständigkeit anderer Kostenträger
Bereitstellung von Hilfsmitteln in Alten- und Pflegeheimen
Leistungseinschränkungen in der häuslichen Krankenpflege
Verschiebungen von Leistungen von der Gesetzlichen Krankenversicherung in die Pfle-geversicherung oder von der Pflegeversicherung in die Sozialhilfe mit Leistungsein-schränkungen als Folge
6. 2. Fehlerhafte Ermessensentscheidungen
Verweigerung eines Elektro-Rollstuhls für eine mobilitätsbehinderte ältere Dame
Altersbegrenzung bei der Kostenübernahme für die stationäre Frührehabilitation von Schlaganfallpatienten
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Diese Beispiele, die nur einen unvollständigen Ausschnitt darstellen, machen deutlich, dass a) die Budgetierung in einer Reihe von Fällen zur Unterversorgung bzw. zu einer – am Stand
der medizinischen Forschung und den Qualitätsstandards in Pflege und Rehabilitation gemessen – unzureichenden Versorgung führt.
b) ungeklärte Zuständigkeiten der Kostenträger bzw. die Tendenz, Kosten zu verschieben, dazu
führen, dass kranken Menschen gesundheitlich notwendige Leistungen vorenthalten werden.
VI. Ethische Kriterien für die Beurteilung von Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen
1. Das durch GKV/PVG finanzierte Leistungsangebot muss sich
c) am Prinzip der Effizienz und d) am Gleichheitsgrundsatz orientieren.
a) ausgehend von einer Option für die Schwachen,
b) durch die Wahrung der Grundrechte, die für das Gesundheitswesen als Patientenrechte
c) durch eine von der medizinischen Indikation unabhängige Begegnungsqualität in den Ein-
3. Die Leistungen des Gesundheitswesens müssen so erbracht werden, dass gesunde und
kranke Menschen in ihrer Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen integralen Lebensfüh-rung in ihren sozialen Bezügen gestärkt werden.
4. Die Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen erfordert transparente, verlässliche
und für die Betroffenen nachvollziehbare Verfahren.
Erläuterungen: Zu 1: Unter gesundheitlichem Bedarf ist im Unterschied zum subjektiven Behandlungsbedürfnis bzw. der Nachfrage nach Leistungen des Gesundheitswesen eine durch fachliches Urteil objek-tivierte Größe zu verstehen. Gesundheitlicher Bedarf besteht nur dann, wenn a) eine Krankheit oder Behinderung fachgerecht bzw. wissenschaftlich diagnostiziert wurde
b) eine Behandlung verfügbar ist, die einen spezifischen gesundheitlichen Nutzen verspricht. c) Die Feststellung von gesundheitlichem Bedarf setzt - so verstanden - die systematische
Bewertung medizinischer Behandlungsformen hinsichtlich ihres gesundheitlichen Nutzens voraus, wie sie international, z. T. unter anderen Voraussetzungen, bereits praktiziert wird.
Das Prinzip der Effizienz fordert, dass die bedarfsgerechte Leistung unter möglichst sparsamer Verwendung der von der Solidargemeinschaft aufgebrachten Mittel erbracht wird. Nach dem Gleichheitsgrundsatz sollen von der Solidargemeinschaft bedarfsgerechte gesund-heitliche Leistungen nur dann finanziert werden, wenn sie allen Mitgliedern der Solidargemein-schaft im Bedarfsfall zur Verfügung stehen. Es ist demnach denkbar, dass eine vielverspre-chende, aber kostenträchtige Therapie nicht von der GKV getragen wird, weil sie nicht allen Betroffenen gewährt werden kann.
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
Zu 2: Zur Absicherung von gesundheitlichen Risiken, die die Individuen nicht allein tragen kön- nen, bietet das Gesundheitssystem standardisierte Angebote und greift dabei in die persönliche Lebensführung ein. Den Bemühungen um die Objektivierung des gesundheitlichen Bedarfs und Behandlungsnutzens und der effizienten Verwendung der Mittel müssen Bemühungen um die Patienten als Subjekte ihres Lebens korrespondieren. Die Grundlage dieser Bemühungen sind die Grundrechte, die für den Gesundheitssektor z. T. in Form von Patientenrechten konkretisiert werden. Die Formulierung von Rechten und Rechtsansprüchen reicht jedoch nicht aus, um die Würde kranker Menschen zu wahren. Kranke können aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung und sozialen Lage ihre Rechte häu- fig kaum wahrnehmen. Deshalb müssen Einrichtungen des Gesundheitswesens ihre Arbeit mit einer Option für die Schwachen verbinden, d. h. für diejenigen, die ihre Anliegen nicht selbst vertreten können. Bei der Erbringung von Leistungen muss darauf geachtet werden, dass be- stimmte benachteiligte Personengruppen nicht de facto ausgeschlossen werden. Die Würde der Kranken muss im Alltag nachhaltig respektiert werden. In den Einrichtungen des Gesundheitswesens muss deshalb eine Qualität menschlicher Begegnung unabhängig von medizinischer Indikation und Therapieangeboten, aber auch von Krankenversicherungs- und Kostenübernahmestatus ermöglicht werden. Zu 3: Die Forderung nach gesundheitlicher Eigenverantwortung ist unabweisbar. Eine eigen- verantwortliche Lebensweise ist nicht nur im Interesse des Einzelnen, sondern in der Gesetzli- chen Krankenversicherung und Pflegeversicherung eine Verpflichtung der Solidarität, da die Solidargemeinschaft den überwiegenden Teil der Kosten für die Leistungen des Gesundheits- wesens tragen muss. Der Umgang mit der eigenen Gesundheit ist bislang jedoch quer durch alle Gesellschaftsschichten z. T. hochgradig irrational. Es besteht wenig Hoffnung, dass allein durch die Privatisierung von Krankheitskosten mit den Leistungen des Gesundheitswesens sinnvoller und sparsamer umgegangen würde. Vielmehr besteht die Gefahr, dass dadurch Ar- me von gesundheitlich notwendigen Leistungen ausgeschlossen werden, ohne dass die allge- meine gesundheitliche Lage verbessert und die Solidargemeinschaft langfristig entlastet würde. Stattdessen muss die Gesundheitsvorsorge als Aufgabengebiet der GKV ausgebaut werden. Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen müssen als Regelangebote verankert werden, die gesunde und kranke Menschen in ihrer Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen integralen Le- bensführung in ihren sozialen Bezügen stärken. Zu 4: Transparenz und Verlässlichkeit sind für die solidarische Gesundheitsfürsorge auf ver- schiedenen Ebenen ethisch wie politisch unabdingbar. Es kommt darauf an, Willkür und büro- kratische Hürden weitgehend zu vermeiden, Interessenkonflikte in der politischen Arena auszu- tragen und Veränderungen im Gesundheitswesen so langfristig zu planen, dass die Bürgerin- nen und Bürger in ihrer persönlichen Lebensgestaltung weiterhin auf den Sozialstaat vertrauen können. VII. Anforderungen an die Gesundheitspolitik
Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen muss in einem zivilgesellschaftlichen Diskurs debattiert und auf der Makroebene (politische Ebene) gelöst werden. Sie darf nicht ans Kran- kenbett verlagert werden, wie dies in den erwähnten Beispielen impliziter Rationierung ge- schieht. Das vorliegende Papier ist als Beitrag zu einem solchen zivilgesellschaftlichen und poli- tischen Diskurs zu verstehen, in dem alle Beteiligten ihre Perspektiven und Interessen offen legen. Gemäß ihrem Leitbild hat die Diakonie die Aufgabe, Hilfe zu leisten und denen Gehör zu verschaffen, die ihre Anliegen selbst nicht geltend machen können (vgl. Leitsatz 3 des Leitbilds Diakonie).
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1. An die Stelle der impliziten Rationierung (z. B. durch feste Budgets) müssen kriteriengeleite-
te explizite Bestimmungen treten, die sich an den o. g. ethischen Kriterien sowie fachlich an den Methoden der nachweisgestützten Medizin (evidence based medicine) orientieren.
2. Die von der GKV zu finanzierenden Leistungen müssen transparent gemacht und öffentlich
3. Die Leistungen des Gesundheitswesens müssen regelmäßig überprüft und dem veränder-
ten Bedarf (Altersentwicklung, chronische Krankheiten u. a.) in der Bevölkerung und dem medizinischen Fortschritt angepasst werden.
4. Die finanziellen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens müssen langfristig geplant
a) Wenn eine Leistung für die GKV akzeptiert worden ist, darf sie nicht wegen Überschrei-
b) Behandlungen dürfen nicht wegen Einzelbudgets verschoben werden (z. B. aus der am-
bulanten in die stationäre Versorgung oder von einem Abrechnungsjahr in das nächste).
5. Leistungen der GKV müssen mit der Pflegeversicherung und anderen Sozialleistungen so
abgestimmt werden, dass der Behandlungsanspruch der Patienten nicht durch eine kompli-zierte Rechtslage und Verwaltungspraxis (Verschiebung von einem zum anderen Kosten-träger) unterminiert wird.
6. Das Regelangebot der Prävention und Rehabilitation muss ausgebaut, seine eigenverant-
wortliche Inanspruchnahme mit Anreizen verbunden werden. Präventions- und Rehabilitati-onsangebote entbinden nicht von der Pflicht, den Kranken umfassend beizustehen.
VIII. Theologische und seelsorgerliche Überlegungen
Als Gebende sind wir auch Empfangende. Als Helfer sind wir zugleich Hilfsbedürftige. Im gegenseitigen Geben und Nehmen e r-leben wir Gemeinschaft und entdecken, dass Glaube und Persön-lichkeit wachsen. Wir verstehen helfende Beziehungen umfassend als Für-, Vor- und Nachsorge. Dabei geht es uns sowohl um den Menschen in seiner persönlichen Situation als auch in seinen s o-zialen Verhältnissen. Deshalb ist die Integration Ausgegrenzter, Armer und Schwacher in die Gesellschaft. Anliegen vielfacher d i-akonischer Initiativen. Die Teilhabe aller am Leben in der Gemein-schaft ist unser Ziel. (Aus dem Leitbild Diakonie).
Für die Diakonie ist die ganzheitliche Zuwendung zum kranken Menschen die Grundlage ihres Handelns. Leitend für christlich motiviertes Handeln ist nicht eine Zieldefinition von Gesundheit, sondern Heil und Heilung für kranke ebenso wie gesunde Menschen. Diesem ganzheitlichen Verständnis des Menschen entspricht eine ganzheitliche Bemühung um Heilung von Krankhei-ten bzw. Linderung von Leiden, zu der neben der medizinischen Behandlung Pflege und Seel-sorge gehören. Unheilbar Kranke und Sterbende haben den gleichen Anspruch auf Zuwendung und Behandlung wie Patienten mit positiver Prognose. Die diakonische Krankenhilfe hat den Auftrag, kranken und pflegebedürftigen Menschen umfas-send beizustehen, unabhängig davon, wer sie sind und wie sie in eine Notlage geraten sind. Das Gebot der Nächstenliebe und Barmherzigkeit kennt keine Einschränkung der Hilfe für not-leidende Menschen. Dieses Gebot ist vor dem Hintergrund der biblischen Verheißungen zu ver-stehen. Sie haben Menschen zu selbstlosem Eintreten zugunsten Armer, Kranker und Schwa-cher motiviert und den Ausbau des Gesundheitswesen und des modernen Sozialstaats mitge-prägt.
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
Mit dem Ausbau des Gesundheitswesens ist die Lebenserwartung und -qualität der Bürgerin- nen und Bürger entwickelter Länder gestiegen. Gesundheit hat für die meisten Menschen einen hohen Stellenwert. Sie sind bereit, für die Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit viel aufzuwenden. Dies muss bei der Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung ebenso berücksichtigt werden wie arbeitsmarktpolitische Gründe für eine Festschreibung der Beitrags- sätze und die Forderung nach einem sparsamen Einsatz der Mittel. In Krankenhäusern, Arztpraxen und in der ambulanten Pflege werden häufig persönliche und soziale Problemlagen (z. B. Sucht, Armut) sichtbar, die in unserer Gesellschaft nur über die aus ihnen folgenden gesundheitlichen Schäden identifiziert werden. Viele dieser Problemlagen kön- nen mit medizinischen Mitteln allein nicht bewältigt werden. Es ist problematisch, wenn notwen- dige persönliche Zuwendung und soziale Einbettung gegenüber somatisch orientierten Behand- lungen in den Hintergrund treten. In gesellschaftlicher Perspektive muss darauf geachtet wer- den, dass ursächlich soziale Probleme (wie Armut) nicht in den Gesundheitssektor verlagert werden. In der Diskussion über die Zukunft des Gesundheitswesens müssen auch die Aussichten auf Steigerung der Lebensqualität mit medizinischen Mitteln berücksichtigt werden, die die biome- dizinische Forschung bereithält. Diese Aussichten können Anspruchshaltungen (wellness, life- style-Drogen etc.) wecken, die die Gesetzliche Krankenversicherung nicht erfüllen kann und soll. Zunehmend stellt sich die Aufgabe, das gesundheitlich Notwendige gegen weitergehende Leistungen des Gesundheitsmarktes abzugrenzen. Die Gesundheit ist ein hohes Gut, das kaum zu überschätzen ist. In ihrer positiven Wirkung und ihrem Sinn überschätzt werden können jedoch die Leistungen des Gesundheitswesens. Sie können dem Leben keinen Sinn geben, nicht Einsamkeit und soziale Isolation überwinden oder die Auseinandersetzung mit dem Alter ersparen. Aus christlicher Sicht geht ein nur mit medizi- nischen Mitteln herbeigeführtes Wohlbefinden an den wahren Möglichkeiten menschlichen Da- seins vorbei. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten beginnt mit der Anerkennung der Gren- zen und der Endlichkeit menschlichen Lebens: Wenn diese Grenzen erkannt und freiwillig ak- zeptiert werden, gewinnt das Leben durch den bewussten Umgang mit der begrenzten Lebens- zeit an Dichte und Tiefe. IX. Überlegungen zur weiteren Arbeit des Ausschusses
Der Ausschuss setzt die Dokumentation von Beispielen impliziter Rationierung sowie die Dis- kussion über die ethischen Kriterien fort, mit deren Hilfe die Ressourcenverteilung im Gesund- heitswesen beurteilt werden soll. Außerdem stehen derzeit folgende Themen auf der Tagesord- nung: 1) Die Rationalisierungspotenziale im Ländervergleich (vgl. Weltgesundheitsbericht 2000) 2) Die Stärkung der Prävention und ihre Konsequenzen für die anderen Sektoren des
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X. Anhang: Beispiele expliziter und impliziter Rationierung
1. Explizite Rationierung durch die Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte- Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege gem. § 92 SGB V
Grundlagen
Häusliche Krankenpflege, deren gesetzlicher Anspruch im § 37 SGB V - gesetzliche Kranken- versicherung - geregelt ist, erhalten Versicherte neben der ärztlichen Behandlung, wenn Kran- kenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist oder wenn durch die häusliche Kran- kenpflege die Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Diese sog. Krankenhaus- vermeidungspflege umfasst dann die im Einzelfall notwendige Grund- und Behandlungspflege und Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung über einen Zeitraum von vier Wochen (in begründeten Ausnahmefällen auch länger) und wird meist bei akuten Erkrankungen notwendig. Des Weiteren besteht ein Anspruch auf Leistungen der Behandlungspflege (z.B. Verbände, Injektionen, Verabreichung von Medikamenten) zur Sicherung des ärztlichen Behandlungszie- les.
Problemfelder
Abschließendes Leistungsverzeichnis
Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen gem. § 92 SGB V ent- halten in der Anlage ein Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Kranken- pflege. Nicht aufgeführte Maßnahmen können nicht als Leistungen der häuslichen Krankenpfle- ge ärztlich verordnet werden. Damit gefährden die Richtlinien eine gesicherte vorrangige ambu- lante Behandlung, da notwendige Leistungen – insbesondere für schwerstkranke und sterbende Menschen sowie psychisch kranke Menschen nicht enthalten sind. Einschränkung der Verordnungsfähigkeit
Mit den Richtlinien werden bestimmte Leistungen hinsichtlich ihrer Verordnungsfähigkeit einge- schränkt. So kann z.B. die Blutdruckmessung nur im Zusammenhang mit Erst- oder Neueinstel- lung bei Hypertonie (Bluthochdruck) verordnet werden. Anlass begründeter Blutdruckkontrollen bei Krankheiten wie Apoplex, Hirndrucksyndrome, Herz- oder Niereninsuffizienz werden nicht genannt. Ähnliches gilt für die Blutzuckerkontrolle. Darüber hinaus wird für die Verordnung be- stimmter Leistungen ein anspruchsberechtiger Personenkreis beschrieben. So können Leistun- gen wie Blutzuckerkontrolle, subcutane Injektionen, Medikamentengabe, Kompressionsverbän- de nur Patienten verordnet werden, die an einer hochgradigen Einschränkung der Sehfähigkeit, der Grob- und Feinmotorik der oberen Extremitäten oder der körperlichen oder geistigen Leis- tungsfähigkeit leiden. Verordnungsbegrenzung in Dauer und Häufigkeit Bei verschiedenen Leistungen macht die Richtlinie Vorgaben zur Dauer der Verordnung und zur Häufigkeit der Verrichtung. So soll z.B. die Blutzuckerkontrolle maximal für vier Wochen verord- net werden und ist maximal drei Mal am Tag zu erbringen. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass dies Empfehlungen für den Regelfall sind, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann, dies ist jedoch mit erhöhtem bürokratischen Aufwand verbunden.
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2. Verweigerung der Verschreibung bzw. Erbringung von Leistungen unter Hinweis auf Budgetgrenzen (Unterversorgung)
Verweigerung einer Krebstherapie
Eine etwa 40-jährige Frau, Zustand nach lokaler Brusttumorentfernung vor etwa 15 Jahren, seitdem in kontinuierlicher Überwachung durch den ermächtigten Chefarzt der Frauenklinik die- ses Krankenhauses, leidet zusätzlich seit mindestens dieser Zeit an einer Multiplen Sklerose. Durch die gute Kooperation der Patientin ist das Fortschreiten der Multiplen Sklerose auf ein Minimum zurückzudrängen gewesen und ein auf der anderen Seite neu entstandener Brust- krebs relativ bald erkannt worden. Der Brustkrebs hatte allerdings Lymphknoten schon mitbefal- len gehabt, so dass die Brust und die Lymphknoten entfernt werden mussten. Da der Chefarzt der Frauenklinik aus Altergründen hier ausschied und noch keine neue Ermächtigung für einen neuen Chefarzt ausgesprochen wurde, hat die Frau sich bemüht, die teure, spezielle hormonel- le Krebstherapie, die von der Universität X. empfohlen wurde, über behandelnde Ärzte ver- schrieben zu bekommen. Hierzu hat sich keiner bereit erklärt. Die Hochschule Y hat daraufhin ein weiteres Mal das Medikament für die Patientin verschrieben, obwohl sie für diese Patientin überhaupt nicht zuständig war und direkt mit der Patientin hinsichtlich einer Behandlung nicht verwoben war. Bei der Patientin mussten zur hormonellen Therapie zusätzlich auch die Eierstö- cke entfernt werden, so dass sie unter extremen Beschwerden wie in den Wechseljahren leidet. Die Patientin beklagt, dass sie neben den ja wahrscheinlich schicksalhaft entstandenen Krank- heiten, die ihr auf keinen Fall zur Last gelegt werden können, und neben den im Augenblick schrecklichen Nebenwirkungen der Eierstockentfernungen und natürlich der psychischen Belas- tung einer Brustentfernung und der Angst, dass bei nur mäßigen Chancen, dass der Krebs nicht weitergeht, diese Chancen sich als ungünstig für sie realisieren könnten. Unter dieser Situation war kein niedergelassener Arzt bereit, ihr diese kostspielige Therapie zu verschreiben. Sie hat sich als Bittstellerin empfunden, die zudem noch regelmäßig Ablehnungen bekam. Verweigerung einer Interferon-Therapie bei Multipler Sklerose
Ein Patient mit Multipler Sklerose, der immer wieder Verschlechterungen erfahren hat bis hin zur Rollstuhlpflichtigkeit, der inzwischen alleine lebt, weil seine Frau sich von ihm getrennt hat, und der bei vollen geistigen Kräften und guter Hirnleistung dieses auch meistert, ist mit allen bisher angewendeten Medikamenten, insbesondere auch solchen von Spezialkliniken für MS, nicht ausreichend gut behandelbar gewesen. Deshalb muss jetzt ein neu zugelassenes Medi- kament als neue Chance ergriffen werden, ein Interferon. Die Interferon-Therapie ist eine sehr teure Therapie mit Chancen, auch in einem chronischen Fall zu helfen. Die Zulassung dieser Medikamente ist erst in der letzten Zeit zum Teil erfolgt. Auch dieses Medikament wird vom Hausarzt nicht verschrieben, weil es sein Budget zu sehr belastet und weil er dann finanziell zur Rechenschaft gezogen würde. Er fordert den behandelnden Neurologen auf, dieses zu tun, weil es ja eine neurologische Krankheit ist. Unter diesen Umständen gibt es meines Erachtens ü- berhaupt gar keine Krankheiten mehr, die der Hausarzt behandeln muss, denn sie sind alle in Fachgebiete einzuordnen. Als Facharzt für Neurologie hat man ein ausgesprochen kleines Me- dikamentenbudget, weil bisher gewünscht wurde, dass derartige Behandlungen sinnvollerweise über den Hausarzt laufen. Er muss wissen, welche Medikamente noch verschrieben wer kann und steuern kann. Das Medikament ist jetzt von dem Neurologen mit dem Hinweis verschrieben worden, dass die Eingangstherapie durch ihn durchgeführt wird, aber nicht zukünftig, denn auch er wird mit dem Budget sonst entgleisen und belastet werden.
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Verweigerung ambulanter Infusionen durch den Hausarzt bei einem Patienten mit Neuroborreliose
Bei einem Patienten mit entsprechenden Beschwerden wird stationär eine Neuroborreliose (ü- ber die Zecken übertragene Erkrankung des Nervensystems) festgestellt. Während bei der ein- fachen Form dieser Erkrankung eine Tablettengabe täglich ausreicht, ist bei dem Befall des Nervensystems eine Infusion pro Tag nötig. Früher haben die Hausärzte darauf bestanden, dass der Patient sofort entlassen wird, weil es Unsinn sei, einen Patienten wegen einer Infusion im Krankenhaus zu behalten, das könne man auch ambulant machen. Jetzt verweigert der zu- ständige Hausarzt diese Behandlung, weil sein Budget das nicht hergibt und es eine neurologi- sche Erkrankung ist und der Patient ohnehin im Krankenhaus zur Behandlung läge. Geeinigt haben wir uns, indem der Patient ungefähr eine Woche hier bleibt und der Hausarzt für 14 Tage diese Behandlung übernimmt. Den Vorhalten, dass der teure stationäre Aufenthalt und die deut- lich weniger teure medikamentöse ambulante Applikation doch in keinerlei Relation zueinander stehen und dass es ganz klar ist, dass man dieses ambulant machen sollte, wird wieder mit der Kostenhaftung beim Budget begegnet. Verweigerung der Laborüberwachung bei Gabe von antiepileptischen Medikamenten durch den Hausarzt
Ein schon etwas länger zurückliegender vierter Fall ist die Überwachung des Labors bei Anord- nung von antiepileptischen Medikamenten. Auch hier verweigern die Hausärzte diese Überwa- chung oder führen sie nicht durch, weil ihr Laborbudget zu niedrig ist. Die Neurologen haben, weil sie früher nie Laborwerte kontrollierten und dieses immer über die Hausärzte machen lie- ßen. Auch dieses machte immer schon Sinn, nicht die Möglichkeit, unschädliche Laboruntersu- chungen für ihre Patienten durchzuführen. Mit schädlich ist gemeint, dass der Neurologe nun fast die gesamten Kosten für Laboruntersuchungen selbst trägt. Es wird dazu führen, dass die- se Untersuchungen nicht mehr durchgeführt werden und entstehende Schäden dann im Kran- kenhaus behandelt werden müssen. Vor allem wird aber die medikamentöse Einstellung von Anfallskranken, von denen es ja eine große Zahl gibt, erheblich erschwert und dadurch ver- mehrt stationäre Einweisungen nötig werden. Verweigerung von Heilmitteln, insbes. Physiotherapie für Bewohner einer Einrichtung der Behindertenhilfe durch den Hausarzt
Die behinderten Bewohner einer größeren Einrichtung der Behindertenhilfe in A. werden von einem niedergelassenen Arzt versorgt. Da der Bedarf an Heilmitteln (insbesondere Physiothe- rapie etc.) bei behinderten Bewohnern dieser Einrichtung wesentlich höher ist als bei anderen Patienten, hat der Arzt sein Budget für diese Leistungen in kurzer Zeit bei weitem überschritten. Er wird von den Krankenkassen mit erheblichen Regressforderungen konfrontiert. Dies führt dazu, dass der Arzt bei der Verschreibung von Heilmitteln wesentlich zurückhaltender wird und somit eine bedarfsgerechte Versorgung mit Heilmitteln der Bewohner der Behinderteneinrich- tung nicht mehr gewährleistet ist. Weigerung einer Klinikambulanz bei fortgeschrittener Anämie, ein Erythropoietin- Präparat zu verschreiben
Die Patienten, die teure Medikamente brauchen, werden herumgeschickt:
Eine 68-jährige Patientin wurde aus einer Klinikambulanz (mit Kassenzulassung!) zu mir zur Weiterbehandlung geschickt mit der Bitte, ihr doch wegen einer fortgeschrittenen Anämie ein Erythropoietin-Präparat zu verordnen (Kosten: Je nach Dosis 500 bis 1.000 DM / 2 Wochen).
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Auf meine Frage, ob sie dieses Präparat denn in der Klinik oder anschließend in der Ambulanz erhalten habe, sagte sie, man habe ihr gesagt, dies müsse ich verschreiben. Manche Patienten bekommen solche Empfehlungen sogar schriftlich. Weigerung eines Hausarztes, bei Mangelerscheinung nach Dickdarmentfernung ein Magnesiumpräparat zu verschreiben Eine Patientin wendet sich an ihre Krankenkasse: An den Leiter der A.-Krankenkasse Antrag auf Kostenübernahme von MG 5 longoral bei totaler Colectomie seit 1988, Zustand nach Colitis ulcerosa, sowie evtl. weiterer lebensnotwendiger Vitamine, Mineralien und Spurenelemente Sehr geehrter Herr B., nach meiner totalen Dickdarmentfernung im Oktober 1988 wurde mir wegen auftretender Man- gelerscheinungen MG 5 longoral, ein hochdosiertes Magnesium-Präparat, verordnet. Die Kos- ten wurden von meiner damaligen KV, seit meiner Aufnahme der Berufstätigkeit 1991, von der A.-Kasse aufgrund des Erkrankungsbildes immer übernommen. Am 10.08.00 teilte mir meine behandelnde Hausärztin, Frau Dr. C., mit, dass sie mir das erfor- derliche Kassenrezept nicht ausstellen dürfe, obwohl sie die Einnahme des Magnesiums für notwendig hält. Sie stellte mir ein Privatrezept aus. Als chronisch beeinträchtigte Patientin frage ich mich:
Was ist eigentlich im Versorgungssystem los?
Mit welchem Recht wird mir ein für meine körperliche Gesundheit notwendiger Stoff vor-enthalten?
Welche Entscheidungskompetenz wird einer Hausärztin zugemessen?
Mit welchen weiteren Verschlechterungen in der Versorgung als chronisch erkrankter Mensch haben ich und andere Betroffene zu rechnen?
Was machen Sie eigentlich mit meinen Beiträgen, wenn ein behandelnder Hausarzt nur 70 DM im Quartal – ein Handwerker diese aber für eine Arbeitsstunde erhält?
Warum wird für einen chronisch kranken Patienten nicht eine angemessene Pauschale zur Verfügung gestellt?
Die regelmäßige Substitution verschiedener Vitamine und Mineralstoffe, die ich im Körper nicht mehr bilden und/oder der Nahrung nicht entziehen kann, wird leider in immer kürzeren zeitli-chen Abständen notwendig. Halte ich diese nicht diszipliniert ein oder meine mal wieder ein bisschen experimentieren (sprich: hinauszögern) zu können, ob es nicht doch anders geht – werde ich hochgradig infektanfällig, bin total erschöpft, bemerke erhebliche Einbußen meiner Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Arbeite aber tapfer weiter und suche schnellstens meine Haus-ärztin auf, um mir die notwendigen Stoffe infundieren zu lassen und nicht völlig aus dem Lot zu geraten und evtl. noch krankgeschrieben zu werden. Benötigte ich zu Beginn der Dickdarmentfernung 1 bis 2 Tabletten MG 5 pro Tag, so sind es mittlerweile 3 bis 4 Tabletten täglich, je nach körperlicher Anstrengung. Halte ich diese Dosie-rung nicht ein, bekomme ich innerhalb der nächsten Stunden Wadenkrämpfe, Kopfschmerzen und das Gefühl, nicht richtig denken zu können. Benötigte ich früher nur im Vier-Wochen-Abstand eine ADEK-Spritze, so hat sich dieser Zeit-raum in den 12 Jahren auf zwei Wochen verkürzt. Lasse ich mir nicht im 14-Tage-Rhythmus die B-Vitamine infundieren, bekomme ich dicke Man-deln, einen total geröteten Hals und bin körperlich sehr erschöpft, es droht ein Infekt. Wenige
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Stunden nach der intravenösen und intramuskulären Verabreichung sind all diese u.a. Mangel- erscheinungen behoben, um dann nach einem gewissen Zeitabstand wieder aufzuflackern. Meiner Hausärztin gegenüber aber habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich ihr Budget sehr strapaziere, obwohl sie dies sich mir gegenüber nicht anmerken lässt! Je länger ich ohne Dickdarm lebe, desto leerer sind meine Reservedepots und umso weniger ist mein Körper in der Lage, bestimmte Stoffe selbst aus der Nahrungskette zu ziehen. Der Er- nährung und der täglichen Flüssigkeitszufuhr widme ich hohe Aufmerksamkeit, da ich sonst noch mehr körperliche Schwierigkeiten hätte. Mein privates Interesse ist auf möglichst viel Normalität und Gesundheit im Rahmen meiner Beeinträchtigungen ausgerichtet, dies kostet mich viel Disziplin im Alltag und spart der Kasse viel Geld! Es ist doch paradox, wenn eine solche Krankenkassenpolitik mich im Grund kränker statt ge- sünder macht. Jeder vorübergehende Durchfall eines normalen gesunden Menschen, der von diesem ohne Arzt mit bekannten Hausmitteln kuriert werden könnte, wird problemlos als behandlungsbedürf- tig akzeptiert und bezahlt. Eine notwendige Substitution und Behandlung eines Mangelzustan- des aufgrund einer chronischen Erkrankung aber abgelehnt. Das kann doch nicht Ziel einer vernünftigen, sparsamen Krankenkassen-Politik sein! Ich bitte daher um eine schriftlichen Kostenzusage für die weitere Rezeptierung des Magnesi- um-Präparates. Und ich bitte darum angesichts der Grunderkrankung, dies auch für vermutlich immer mehr notwendig werdende Substitutionen zu erweitern. Das von mir bezahlte Rezept lege ich bei und bitte um Kostenerstattung abzüglich des Eigenan- teils. Ich setze auf eine vernünftige, den Ausgangsbedingungen angemessene Gestaltung der Behandlungsbedingungen und hoffe auf eine baldige entsprechende Antwort. Schwierigkeiten bei der Verschreibung zytostatisch-wirksamer Medikamente in einer Lungenklinik
In der Lungenklinik Y ergibt sich das wohl augenfälligste Beispiel für eine Rationierung im Ge- sundheitswesen hinsichtlich der Anwendung neuerer zytostatisch-wirksamer Medikamente. Diese Medikamente induzieren Therapiekosten zwischen 2000 und 3000 DM pro zytostatischen Behandlungszyklus. Die Anwendung solcher Medikamente unter stationären Bedingungen ist mit dem z. Zt. existierenden Pflegesatz nicht realisierbar. Unser Ausweichen auf eine ambulan- te Verschreibung der Medikamente ist zwar möglich, jedoch letztlich nur eine Verlagerung des Problems in einen anderen Topf. Z. Zt. ist die Nicht-Einsetzbarkeit dieser Medikamente zu rechtfertigen, da die bisherigen Daten keine eindeutige Überlegenheit über die etablierten Stan- dard-Therapien zeigen. Es ist jedoch erwartbar, dass die Situation sich in absehbarer Zeit än- dern wird. Dann stehen wir in der Tat vor einem Dilemma, dass die Patienten von uns die An- wendung von für die Klinik nahezu unbezahlbaren Medikamenten fordern können. 3. Verweis auf weniger wirksame, aber billigere Maßnahmen (z. B. Medikamente) Schizophrenie-Behandlung mit älteren Medikamenten, die hohe Nebenwirkungen haben (und höhere als die dem Stand der Forschung entsprechenden Mittel)
Die Schizophrenie gehört zu den zehn am häufigsten zu Behinderung führenden Erkrankungen. Aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie handelt es sich um die teuerste Erkran- kung, da sie in der Mehrzahl der Fälle zur teilweisen oder vollständigen Arbeits- oder Erwerbs- unfähigkeit führt. Mit einer Punktprävalenz von 0,6 bis 0,8 %o handelt es sich zudem um eine häufige Erkrankung, die in der Regel chronisch verläuft. Neben anderen Therapieelementen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll, zählt die medikamentöse Be- handlung mit Neuroleptika heute international als Goldstandard. Die Compliance der Patienten, d.h. ihre Bereitschaft zur regelmäßigen Medikamenteneinnahme, ist jedoch häufig gering, da
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die Patienten unter den in der Vergangenheit zur Verfügung stehenden, sogenannten konventi-onellen Neuroleptika (z.B. Haloperidol) in den meisten Fällen schwere Nebenwirkungen erlebt haben. Das vorzeitige Absetzen der Medikamente erhöht jedoch die Rezidivwahrscheinlichkeit und damit auch die Notwendigkeit erneuter stationärer Behandlungen. Jährlich erfolgen in Deutschland etwa 120.000 stationäre Aufnahmen mit einer mittleren Verweildauer von 77 Ta-gen, woraus ca. 3 Mrd. DM als stationäre Behandlungskosten resultieren (Quelle: Deutsches Ärzteblatt v. 16. Juni 2000). Seit etwa zehn Jahren stehen modernere, besser wirksame und vor allen Dingen deutlich nebenwirkungsärmere Neuroleptika zur Verfügung, als Beispiele seien Risperdal und Zyprexa genannt. Aufgrund ihrer wesentlich geringer ausgeprägten Nebenwir-kungen bei gleichzeitig deutlich verbesserter Wirksamkeit bedeuten diese neuen Neuroleptika eine dramatische (!) Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten. Behandlungskosten: Die Tageskosten einer konventionellen neuroleptischen Behandlung beispielsweise mit Halope-ridol in einem mittleren Dosisbereich von 5 bis 20 mg/Tag liegen im Bereich von 0,50 bis 2,30 DM/Tag. Die Kosten der neuen Neuroleptika liegen wesentlich höher: die Tagesdosis Risperdal (2 bis 8 mg/Tag) kostet zwischen 5,20 und 20 DM/Tag. Die Behandlung mit Zyprexa (Tagesdo-sis 10 bis 20 mg) kostet zwischen 13,50 und 27 DM/Tag).
Als Konsequenz der Budgetdeckelung ist es sowohl für die Krankenhäuser als auch für die nie-dergelassenen Ärzte immer schwieriger, den Patienten diese modernen Medikamente zukom-men zu lassen. Für den stationären Bereich wird die Chance vertan, durch nebenwirkungsär-mere Medikamente die Compliance der Patienten zu erhöhen und infolgedessen die Anzahl und die Dauer der stationären Behandlungen signifikant zu reduzieren. Für den ambulanten Bereich sei darauf hingewiesen, dass das mittlere Arzneimittelbudget für einen niedergelasse-nen Psychiater oder Nervenarzt im Bereich zwischen 40 und 80 DM/Patient/Quartal liegt. Unter diesen Rahmenbedingungen kann nicht mehr davon gesprochen werden, eine Rationierung der notwendigen Leistungen finde nicht statt.
Verweigerung von neuentwickelten, im Vergleich teureren Antiepileptika s. Anhang II 4. Zeitliche Verschiebung von Maßnahmen Verschiebung einer Kniegelenksoperation in das folgende Jahr aus Gründen des Budgets
Operationen werden bereits im September ins nächste Jahr verschoben. Ein Arzt berichtet: Gestern war eine 60-jährige Patientin, A., mit ausgeprägter Gonarthrose und erheblichen Be- schwerden bei mir und berichtete: Nach erfolgreicher einseitiger Kniegelenksoperation im Früh- jahr sollte im Herbst d. J. die andere Seite operiert werden. Als sie deshalb wegen eines OP- Termins in ihrer orthopädischen Klinik vorsprach, wurde ihr bedeutet, sie könne aus Gründen des Budgets nur noch dann in diesem Jahr operiert werden, wenn ein anderer Patient absage. Zwischenzeitlich habe ein Patient abgesagt, woraufhin sie auf die Liste kam. Dann habe er wie- der zugesagt, woraufhin sie wieder von der Liste gestrichen wurde. Jetzt sei sie wieder auf der Liste, weil ein anderer Patient abgesagt habe.
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5. Absenkung der Qualität von Maßnahmen im Bereich der Pflege
Die Nachtdienste sind quantitativ unzureichend besetzt. Es gibt dafür keinen Stellenschlüssel. Wenn ein übergewichtiger Mensch stürzt, kann die einzelne Schwester den Patienten nicht wieder aufrichten. Zwar kann man ihn dann dort, wo er liegt, irgendwie lagern. Bis eine weitere Hilfe kommt, kann aber eine lange Zeit vergehen. 35 bis 40 Patienten hat eine Nachtschwester allein zehn Stunden lang zu versorgen. Deshalb müssen die Patienten, die geklingelt haben, oft bis zu einer halben Stunde und länger warten, bis sie versorgt werden. Erst die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes hat dazu geführt, dass durch weitere Kräfte we- nigstens die gesetzlichen Pausen eingehalten werden können. Druckgeschwüre durch falsche Lagerung: Seit kurzem gibt es ein Dekubitus-Management: Die Druckgeschwüre werden dokumentiert. 90 % von ihnen entstehen durch Pflegefehler. Der Standard, alle zwei Stunden zu lagern, kann zum einen oft nicht eingehalten werden und ent- spricht zum anderen nicht den neuesten Erkenntnissen. Mehrfach müssten Patienten öfter ge- lagert werden. Prophylaxen können nicht immer den eigentlichen Anforderungen entsprechend durchgeführt werden. Folgen: Hypostatische Pneumonie, Kontrakturen, Thrombosen, bis hin zur Entstehung von Embolien mit fatalen Folgen. Wegen fehlender Überwachungsmöglichkeiten durch das Pflegepersonal laufen Infusionen „pa- ra“, ohne dass die Patienten dies merken. Dies führt zu Venenentzündungen. Ältere Menschen, die z.B. nach einer OP verwirrt sind, können nicht behutsam betreut werden, sondern werden stundenweise mit Bauchgurten oder anderem fixiert, obwohl dies verboten ist. Bestimmte Funktionen werden am Wochenende nicht angeboten: z.B. Bewegungsübungen/ Krankengymnasik. Wer in der Chirurgie z.B. montags operiert wird, der wird ab Dienstag be- handelt. Bei einer OP am Freitag hat man Pech und wartet bis Montag, was den Heilungspro- zess natürlich verzögert. Patienten stauen sich nach OPs im Aufwachraum, weil sie von den Stationen nicht abgeholt werden (können). Betreuung Sterbender ist kaum möglich. Obwohl sich die Pflegenden größte Mühe einer Beglei- tung geben, sterben viele Patienten allein. Dies ist eine extreme emotionale Belastung für die Pflegenden, die von Schuldgefühlen geplagt werden. Die Angehörigen reagieren äußerst irritiert darauf. 6. Vorenthalten von Leistungen durch rigide Verwaltungspraxis Unklare Zuständigkeit bzw. Verweis auf die Zuständigkeit anderer Kostenträger
Bereitstellung von Hilfsmitteln in stationären Alten- und Pflegeheimen
Im Mai 1997 haben die Spitzenverbände der Krankenkassen/Pflegekassen eine gemeinsame Verlautbarung zur Ausstattung von Pflegeheimen mit Hilfsmitteln herausgegeben. Seither leh- nen die Krankenkassen die Gewährung vieler Hilfsmittel ab, bei denen bis dahin die Vorausset- zungen nach § 33 SGB V als erfüllt angesehen worden waren. Die Finanzierungsverantwortung wird mit Berufung auf die Verlautbarung auf die Einrichtung bzw. auf die für die Investitionskos- ten zuständigen Länder und, soweit keine öffentliche Förderung erfolgt, auf den einzelnen Pfle- gebedürftigen verschoben. Versicherten, die in Heimen leben, wird dadurch ihr Leistungsan- spruch gegenüber der Krankenkasse faktisch beschnitten. Sie sind seither dazu gezwungen, ihren Leistungsanspruch auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Häufig müssen sie zuerst einen rechtsmittelfähigen Bescheid einfordern. Der Ausgang der zahlreichen Widersprüche sowie der eingereichten Klagen belegt, dass die Anwendung der „Gemeinsamen Verlautbarung“ bei der Ablehnung von Hilfsmitteln widerrecht- lich geschieht. Die Heimbewohner werden unnötig verunsichert. Die rechtlichen Auseinander- setzungen verursachen zudem einen enormen bürokratischen Aufwand.
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Die Diakonie bestreitet nicht, dass Heime entsprechend ihrer Funktion als Pflegeeinrichtung ausgestattet sein müssen. Dies kann jedoch nicht zu Lasten des Individualanspruchs auf Hilfs-mittel des Versicherten gehen. Heimbewohner und Heime werden bei dieser Auseinanderset-zung zum Spielball der unterschiedlichen Interessen zwischen der Leistungsverpflichtung der Kassen und der Verantwortung der Länder für die Investitionsfinanzierung. Leistungseinschränkungen in der häuslichen Krankenpflege Ein weiterer „Verschiebebahnhof“ tut sich in der ambulanten häuslichen Krankenpflege auf. So werden seit Monaten ärztlich verordnete Leistungen der häuslichen Krankenpflege durch Sach-bearbeiter der Krankenkasse mit dem Hinweis abgelehnt, dass dies Leistungen der Pflegever-sicherung seien. Es handelt sich hier um ärztlich verordnete Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 SGB V. Oftmals gelingt es den Betroffenen erst nach Intervention und Widersprü-chen, die für ihre Versorgung notwendigen Leistungen bewilligt zu bekommen. Diese Situation führt sowohl bei den Betroffenen als auch bei den ambulanten Pflegediensten zu Verunsiche-rung bzw. für die Dienste teilweise zu finanziellen Defiziten und für die Betroffenen zu einer un-genügenden häuslichen Versorgung. Diese Entwicklung wird dadurch begünstigt, dass die Richtlinie zur häuslichen Krankenpflege vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen verabschiedet und vom Bundesministerium für Gesundheit nicht beanstandet worden und damit in Kraft getreten ist. Die nun geltenden Richtlinien schließen erneut Leistungen, die zur häusli-chen Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen notwendig sind, aus. Insbesondere für Schwerstpflegebedürftige, wie z. B. Aids- und Krebskranke, haben diese Leistungsausschlüsse weitreichende Konsequenzen. So können z. B. Infusionen (z. B. zur Schmerztherapie) in der Häuslichkeit nicht mehr verordnet werden. Ebenso bleibt die Versorgung von psychisch Kran-ken ungeregelt, obwohl Pflegeverbände, Krankenkassen und auch Vertreter des Bundesaus-schusses bereits gemeinsam in einer Arbeitsgruppe zum § 132 a SGB V ein Leistungsver-zeichnis für psychisch Kranke erarbeitet haben. Besonders fatal ist die neue Regelung in Bezug auf die Prophylaxen. Diese Leistungen können nicht verordnet werden und werden auch nicht von der Krankenkasse erstattet. Wenn sie erforderlich werden, müssen sie im Rahmen einer anderen verordneten Leistung mit erbracht werden. Erhält jemand z. B. zweimal täglich eine Injektion, und es entsteht aufgrund der Erkrankung die Gefahr eines Dekubitus, müsste der Pflegedienst gemäß der Richtlinie die Dekubitusprophylaxe erbringen, wenn nötig auch fünfmal täglich, ohne dass der Arzt dieses verordnet oder die Krankenkasse die Vergütung dieser Leis-tungen übernimmt. Hier wird der Leistungsanspruch des Versicherten auf Vorbeugung, Verhü-tung bzw. Verschlimmerung einer Erkrankung verweigert und das bei der bekannten Problemsi-tuation von Dekubiti. Insbesondere Schwerstpflegebedürftige können aufgrund der nun in der Richtlinie als verordnungsfähig festgelegten Leistungen bestimmte medizinisch notwendige Leistungen nicht mehr im Rahmen der häuslichen Krankenpflege erhalten. Der politisch gewoll-te Ansatz „ambulant vor stationär“ wird so ad absurdum geführt. Die Honorarbudgets der Ärzte und die Finanzen der Krankenkassen dürfen nicht alleinige Richtschnur in der Gesundheitspoli-tik bleiben.
Verschiebungen von Leistungen von der Gesetzlichen Krankenversicherung in die Pflegeversi-cherung oder von der Pflegeversicherung in die Sozialhilfe mit Leistungseinschränkungen als Folge
Ungeklärte Zuständigkeiten bei der Versorgung multimorbider und chronisch Kranker Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die Anzahl der multimorbiden und chronisch Kranken sich erhöht hat. Die Ursachen hierfür sind vielfältig (z.B. demographische Entwicklung, medizinischer Fortschritt). Menschen mit Hilfebedarf sind keine einheitliche Gruppe. Desweite-ren ist der Hilfebedarf individuell, die Erwartungen/Wünsche hinsichtlich der Hilfeleistungen und deren Qualität unterschiedlich. Aufgrund der persönlichen Lebenssituation, Biografie, des fami-liären und sozialen Umfeldes, der Wohnsituation, den Selbsthilfepotentialen, den verbliebenen
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Fähigkeiten bzw. gesundheitlichen Einschränkungen, den materiellen Ressourcen, dem Bil- dungsstand ergibt sich ein sehr differenzierter Hilfebedarf. Hinzu kommt, dass für die notwendi- gen unterschiedlichen Leistungen oft unterschiedliche Sozialleistungsträger zuständig sind und sich deshalb ein Verschiebebahnhof von Leistungen zwischen den verschiedenen Sozialleis- tungsträgern (z.B. Pflegekassen, Krankenkassen, Sozialhilfeträger, Länder und Kommunen) abzeichnet. Nach wie vor sind Zuständigkeiten, Leistungsabgrenzungen und damit der jeweilige Umfang der Kostenübernahme für die Hilfeleistungen nicht ausreichend geklärt. Die derzeitigen Verteilungskämpfe im Gesundheits- und Sozialwesen gehen somit letztlich zu Lasten der Be- troffenen. Eine weitere Tatsache ist, dass in Deutschland das Gesundheitswesen in stationäre, teilstationäre und ambulante Versorgung aufgeteilt wurde und die einzelnen Sektoren unzurei- chend miteinander korrespondieren bzw. vernetzt sind. In der Praxis ist es häufig so, dass in der Akutphase einer Erkrankung insbesondere die medi- zinische Behandlung bzw. Therapie und Pflege in Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen ausreichend sichergestellt ist, die Schwierigkeiten jedoch bei der Entlassung oder Überleitung in ambulante Versorgungssysteme beginnen. So kann es sein, dass nach Entlassung aus einer stationären Versorgung die notwendige weitere Therapie und Versorgung nicht sichergestellt werden kann. Dies impliziert Drehtüreffekte und geht zu Lasten des Betroffenen. Wenn z.B. eine notwendige, medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation nicht zeitnah bzw. nahtlos erfolgen kann, gerät der bereits erreichte Behandlungserfolg in Gefahr. Die Ursachen für diese Situation liegen in der bereits beschriebenen Trennung der einzelnen Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen und damit zum Teil unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen/Kostenträ- ger, in einer ungenügenden Koordination zwischen den jeweiligen Akteuren und der Unüber- sichtlichkeit der Angebote. Dazu kommt die eingeschränkte Verordnungsfähigkeit von Leistun- gen (z.B. häusliche Krankenpflege, Heilmittel, Hilfsmittel). Im SGB I ist die Verpflichtung verankert, dass Leistungsträger darauf hinwirken müssen, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und schnell erhält. Des weiteren muss der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach gestal- tet werden. Leider wird dieser Verpflichtung in der Praxis nur unzureichend oder ungenügend nachgekommen. Verschiebungen von Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung in die Pflegeversi- cherung oder von der Pflegeversicherung in die Sozialhilfe durch Wechselwirkungen einzelner Sozialgesetze Zunehmend werden problematische Wechselwirkungen der einzelnen Sozialgesetze aufeinan- der sichtbar. Die Wechselwirkungen der Gesetze aufeinander zum Nachteil der Versicherten zeigen sich z.B. darin, dass die Krankenversicherung versucht, Leistungen, die sie bisher über- nommen hat, in die Pflegeversicherung zu verlagern. Zum Beispiel werden sogenannte einfa- che Leistungen der Behandlungspflege wie Prophylaxen, Stomapflege etc. nicht von der Kran- kenkasse übernommen. Dies birgt die Gefahr, dass die Pflegebedürftigen Leistungen erst nach Intervention oder überhaupt nicht erhalten, da die Pflegeversicherung wiederum auf die Leis- tungspflicht der Krankenkassen verweist. Deutlich wird das insbesondere in den oben beschrie- benen Fällen der Nichtgewährung von Hilfsmitteln (z.B. Rollstühlen) durch die Krankenkassen in stationären Pflegeeinrichtungen. Ein weiteres Problem resultiert daraus, dass das Pflegeversicherungsgesetz den Pflegebegriff auf rein somatisch orientierte „Verrichtungen am Menschen“ reduziert. Unglücklicherweise wur- de auch im BSHG die Definition des Pflegebegriffes aus dem SGB XI übernommen. Das führt in der Praxis dazu, dass die Sozialhilfeträger notwendige weitergehende Leistungen, insbesonde- re im Bereich der sozialen Betreuung bzw. der pflegeergänzenden Maßnahmen oftmals nicht gewähren. Hieraus resultiert eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ Pflegebedürftiger. So können sich z.B. finanziell unabhängige Menschen im Rollstuhl Aktivitäten (z.B. Ausfahrten, Kino- und Theaterbesuche) zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben leisten, während Sozialhilfeemp- fänger zunehmend von solchen Leistungen ausgeschlossen sind. Nach Auffassung der
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Diakonie sind über das SGB XI hinausgehende Leistungen nach dem BSHG auch weiterhin möglich (§ 68, Absatz 1, Satz 2, BSHG: Andere Verrichtungen als nach Absatz 5). Hierüber gibt es allerdings gegensätzliche Auffassungen der Sozialhilfeträger. Hieraus ergibt sich aus unse- rer Sicht im Vergleich zu der Situation vor Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes eine Verschlechterung der Situation von Sozialhilfeempfängern, obwohl nach dem übereinstimmen- den Willen des Gesetzgebers keine Schlechterstellung Pflegebedürftiger durch die Einführung des SGB XI erfolgen sollte. Fehlerhafte Ermessensentscheidungen
Verweigerung eines Elektrorollstuhls für eine mobilitätsbehinderte ältere Dame
Eine ältere Dame lebt in einem Pflegeheim in S. Die Dame ist mobilitätsbehindert, könnte sich jedoch mit einem E-Rollstuhl durchaus im Pflegeheim sowie in der Umgebung des Pflegeheims bewegen. Sie beantragte bei der Krankenkasse einen E-Rollstuhl. Dieser wird mit Verweis auf ihr Alter abgelehnt. Da die Dame keine Verwandten hat, die ihr z. B. durch Schieben des Roll-stuhls eine gewisse Mobilität ermöglichen könnten, verbringt sie praktisch die gesamte Zeit in ihrem Zimmer im Pflegeheim. Das von der Krankenkasse abgelehnte Hilfsmittel könnte ihr er-heblich mehr Lebensqualität ermöglichen. Altersbegrenzung bei der Kostenübernahme für die stationäre Frührehabilitation von Schlagan-fallpatienten Das Krankenhaus verfügt über eine im Akutbereich integrierte Frührehabilitations-Station. Die Krankenkassen vertreten die Auffassung, dass nur eine begrenzte Anzahl von Schlaganfallpati-enten, die ein bestimmtes Alter haben, dort behandelt werden können. Alle Patienten, die u. a. dieses Kriterium nicht erfüllen, werden kostenmäßig durch die Krankenkassen nicht akzeptiert. Dies führt im Vorfeld zu einer Selektion von Patienten und in Einzelfällen zu teils öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen der Krankenkasse, den Angehörigen und den behandelnden Ärzten. Die Krankenkassen haben mit Blick auf die Budgetverhandlungen darauf hingewiesen, dass dieses Vorgehen nicht akzeptabel sei und Konsequenzen in Aussicht gestellt.
Rationierung im Gesundheitswesen Diakonie Korrespondenz 11/00
Anhang II: Michael Seidel, von-Bodelschwinghsche Anstalten, Bielefeld Zum Verhältnis von Rationierung und Rationalität am Beispiel neuer, kostenaufwendiger Antiepileptika
1. Einführung
Der folgende Beitrag untersucht die möglichen Beziehungen zwischen Rationierung und Ratio- nalität in der Medizin am Beispiel der neuen Antiepileptika. Dabei sollen positive und negative Aspekte der Wechselwirkung von Rationierung und Rationalität beleuchtet werden. Dabei wird die Annahme zu Grunde gelegt, dass unter den heutigen Bedingungen des deutschen Gesund- heitswesen, namentlich in Form der sog. gedeckelten Budgets, faktisch bereits längst Rationie- rungprozesse vonstatten gehen, wenn auch noch nicht explizit – worin erhebliche Probleme liegen (vgl. Obermann und von der Schulenburg 1997) – und durchgängig. Der Autor möchte Rationierung nicht per se oder a priori legitimieren, sondern er sieht sie als Faktum – bestenfalls hinausschiebbar, kaum vollständig vermeidbar. Er möchte sich dem Plädoyer von Obermann und von der Schulenburg (1997) für eine explizite Debatte darüber anschließen. Er hofft darauf, dass dann, wenn gezeigt werden kann, dass die als Folge von Makro- und Mikroallokationsent- scheidungen zur Verfügung stehenden Budgets nicht ausreichen, dem anvertrauten Patienten medizinische Leistungen im ausreichenden, notwendigen und dem allgemeinen Stand der me- dizinischen Erkenntnisse entsprechenden Umfang angedeihen zu lassen, die Möglichkeit be- steht, auf die Meso- und Makroallokationsentscheidungen einzuwirken. Dazu bedarf es aller- dings der qualifizierten und differenzierten theoretischen Auseinandersetzung mit diesem The- menkomplex auf der Ebene der Träger von Mikroallokationsentscheidungen – der Ärzte und aller anderen Health Professionals. Die in der Literatur vorliegenden Definitionen für Rationierung sind keinesfalls einheitlich und in unterschiedlicher Weise geeignet, die bestehenden Knappheitsprobleme des Gesundheitswe- sens zu erfassen. Sehr pragmatisch verstehen Obermann und von der Schulenburg (1997) un- ter Rationierung „die Anpassung der Ausgaben an das, was finanziert werden kann.“ Kritischer und wertend formuliert Schwartz (1996): „Rationierung bedeutet das Vorenthalten medizinisch wirksamer und von den Patienten gewünschter Maßnahmen.“ Unter Rationierung wird im vorliegenden Beitrag eine Verteilung von medizinischen Leistungen verstanden, bei der im Ergebnis begrenzter Budgets oder begrenzter finanzieller Ressourcen nicht allen Patienten, für die eine bestimmte medizinische Leistung in Frage kommt und die sie in Anspruch nehmen würden bzw. möchten, diese medizinische Leistung zur Verfügung gestellt werden kann. Dabei kann die Leistung entweder für jeden Patienten (der sie sich nicht selbst im gewünschten Umfang kaufen kann) gleichmäßig gekürzt oder im Rahmen der gegebenen Res- sourcen ungleichmäßig auf die potentiellen Empfänger verteilt werden. Der zweite Fall wirft schon vordergründig die Frage nach der Gerechtigkeit der Verteilung auf. Der erste Fall hinge- gen kann bedeuten, allen nur eine suboptimale Behandlung zu gewähren und damit alle gleichmäßig zu benachteiligen. Auch damit sind zwangsläufig ethische Probleme verbunden, die hier nicht näher untersucht werden sollen. Unter Rationalität soll im folgenden Beitrag transparente und darstellbare Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit eines bestimmten medizinischen Handelns verstanden werden. Dabei soll die- ser Begriff vornehmlich gegen intuitive oder emotionale Entscheidungsprinzipien abgrenzen. Dabei soll der Kreis der in die Entscheidung einfließenden Kriterien keinesfalls von vornherein auf medizinische oder fachliche Kriterien einengen, sondern ist offen für weitere, allerdings ge- nau beschriebene Kriterien.
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2. Die sozialrechtliche Ausgangslage für die Verteilung knapper Gesundheitsgüter Entgegen der in der allgemeinen Öffentlichkeit, teilweise auch noch in der medizinischen Fach-öffentlichkeit, verbreiteten Annahme, jedem Patienten stehe die bestmögliche Behandlung, mit-hin jede nur auch verfügbare medizinische Dienstleistung zu, sind durch den deutschen Ge-setzgeber im Sozialgesetzbuch V der Leistungsanspruch der Mitglieder der gesetzlichen Kran-kenversicherung gegenüber dem Gesundheitssystem einerseits, die Leistungspflicht des Ge-sundheitssystems gegenüber dem gesetzlichen Krankenversicherten andererseits theoretisch präzise definiert. Zum einen – in Abgrenzung gegenüber Maximalerwartungen – schreibt das SGB V vor, die Leistungen dürfen „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ und sind wirtschaftlich zu erbringen (§ 12 SGB V: Wirtschaftlichkeitsgebot, § 70 SGB V: Qualität, Humanität und Wirt-schaftlichkeit). Überdies heißt es: „Leistungen, die nicht notwendig oder (sic!) unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken…“ (§ 12 SGB V). Zum anderen – in Abgrenzung gegenüber Minimalisierungstendenzen – schreibt das SGB V vor, die Leistungen „müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein“ (§ 12 SGB V). Es verpflichtet Krankenkassen und Leistungserbringer darauf, „eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen-de Versorgung zu gewährleisten“ (§ 70 SGB V). Auf einer allgemeinen Ebene sind diese gesetzlichen Vorschriften des Sozialgesetzbuches klar, eindeutig und zur Orientierung geeignet. Auf einer konkreten, einzelfallbezogenen Entschei-dungsebene können diese gesetzliche Vorschriften bestenfalls relative Orientierung, manchmal sogar überhaupt keine Orientierung geben. Mehrere Fragen bleiben offen, beispielsweise: -
Wie bestimmt sich das Verhältnis von Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit?
Welche Bestimmungsgrößen gehen im Einzelfall in die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer Leistung ein?
Obendrein bleibt auf einer grundsätzlichen Betrachtungsebene die Frage offen nach dem Ver-hältnis zwischen dem wissenschaftlichen Fortschritt bzw. dem Übergang fortgeschrittener wis-senschaftlicher Erkenntnisse in die allgemeine Handlungspraxis einerseits und der gesetzlichen Vorschrift andererseits die Versorgung habe „dem allgemein anerkannten Stand der medizini-schen Erkenntnisse“ zu entsprechen. Zweifellos können sich medizinische Methoden, diagnos-tische und therapeutische Verfahren etwa, um so schneller als allgemein anerkannte Verfahren etablieren, je häufiger Mikroallokationsentscheidungen zu ihren Gunsten gefällt werden. Das aber wird neben rein fachlichen Kriterien u.a. eine Folge ihres Preises sein. Mithin haben preis-günstige oder kostengünstige Methoden – wenigstens tendenziell – früher die Chance, als all-gemein anerkannter Standard anerkannt zu werden als teure, kostenaufwendige. Auch in einer Zeit, in der der anerkannte medizinische Standard mehr und mehr durch aus-drücklich zum Zweck der Definition fachlicher Standards publizierte Richtlinien, Leitlinien, Emp-fehlungen usw. bestimmt wird, behält nach wie vor die allgemeine Anwendungspraxis, die all-gemeine Übung innerhalb eines fachlichen Handlungskontextes eine wesentliche normative Wirkung für die fachlichen Standards und damit für dasjenige, was als der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse bezeichnet wird.
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3. Die negative Auswirkung von begrenzten Ressourcen auf die Herausbildung von fachlichen
Mit Blick auf die noch näher zu erörternden erheblichen Kosteneffekte der neuen Antiepileptika darf als sicher gelten, dass es solche neuen, kostenaufwendigen Antiepileptika wesentlich schwerer haben, sich im Standardrepertoire der Epileptologen – sowohl im Krankenhaussektor als auch im niedergelassenen Sektor – zu etablieren als alle früheren – preisgünstigeren – Neu-einführungen auf dem Gebiet der Antiepileptika. Selbstverständlich spielt bei dieser Entschei-dung nicht nur das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V schlechthin, sondern vor allem der reale Kostendruck im stationären und im ambulanten Bereich eine entscheidende Rolle. Es ist wohl anzunehmen, dass unter diesem Druck, der u.a. mit Regressandrohungen verknüpft ist, auch fachliche Kompromisse gemacht werden. Wenn man – und hier stehe die Problematik neuer, kostenaufwendiger Antiepileptika exemplarisch für alle neuen und kostenaufwendigen medizini-schen Verfahren – die Herausbildung und die Beibehaltung der allgemeinen Anwendungspraxis neuer Antiepileptika systematisch untersuchen würde, fände man sicher heraus, dass die Etab-lierung der neuen Antiepileptika deutlich langsamer und zögerlicher verläuft als die Etablierung der früheren Neueinführungen mit ihrem niedrigeren Preis und vor allem auch unter den dama-ligen Bedingungen des Kostendeckungsprinzips. Die Herausbildung eines allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse ist also unter den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens keineswegs allein von rein fachlichen Erwägungen abhängig. Vielmehr fließen in die Entwicklung fachlicher Handlungskriterien wirtschaftliche Erwägungen von vornherein ein. Anders ausgedrückt: Die ökonomischen Faktoren beeinflussen sowohl auf direktem als auch auf indirektem Weg die An-wendung neuer medizinischer Erkenntnisse, Praktiken usw. Auf direktem Wege wirken sie über das in § 12 SGB V definierte Wirtschaftlichkeitsgebot. Auf indirektem Wege wirken sie über die beschriebene Einflussnahme auf die Herausbildung des im § 70 SGB V definierten Maßstabes – den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“. Unter dem Aspekt der Wechselwirkung von Rationierung und Rationalität in der medizinischen Versorgung ist dieses soeben erörterte Wechselverhältnis als negative Wirkung von Rationie-rung auf Rationalität zu interpretieren. 4. Die neuen, kostenaufwendigen Antiepileptika In den letzten Jahren ist eine Reihe neuer Antiepileptika entwickelt worden. Fast alle dieser neuen Antiepileptika wurden auch zum deutschen Arzneimittelmarkt zugelassen oder dies steht in Aussicht (Felbamat, Gabapentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin, Tiagabin, Topiramat, Vigabatrin). Damit wurde und wird die Palette der antiepileptischen Medikamente spürbar bereichert und für viele Patienten mit bislang ungenügender Anfallskontrolle die Hoffnung greifbar, dass ihre Epi-lepsie besser als bisher kontrolliert werden kann. Das ideale Ziel aller antiepileptischen Thera-pie ist die völlige Kontrolle der Anfälle (Anfallsfreiheit) ohne Nebenwirkungen. Allerdings ist allen neuen Antiepileptika eigen, dass sie wesentlich kostenintensiver oder teurer als die traditionellen Antiepileptika sind. Zur Illustration dieses Verhältnisses der Kosten zuein-ander soll im Folgenden für ausgewählte traditionelle Antiepileptika zum einen, für einige mitt-lerweile zugelassene neue Antiepileptika zum anderen der Kostenaufwand der empfohlenen Tagesdosen (Schneble & Ernst 1997) gegenübergestellt werden. Als Grundlage für die Preis-kalkulation wurden dabei die Angaben aus der Roten Liste 1998 genommen. Die Einzelheiten sind in den Tabellen 1) und 2) dargestellt.
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Tab. 1: Tagestherapiekosten bei ausgewählten traditionellen Antiepileptika
Tab. 2: Tagestherapiekosten bei ausgewählten neuen Antiepileptika
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Einsatz neuer Antiepileptika mit wesentlich höheren Ta-gestherapiekosten verbunden ist als der Einsatz der traditionellen Antiepileptika. Auf jeden Fall können sie damit nicht von vornherein pauschal als Antiepileptika der ersten Wahl gesehen werden - von den Fragen ihrer speziellen Indikation, ihrer Wirksamkeit und ihrer Sicherheit als neue Substanzen gegenüber vieljährig bewährten und empirisch detailliert belegten traditionel-len Substanzen ganz abgesehen. 4. 1. Die Auswirkungen der neuen Antiepileptika auf die Budgets Die Einführung neuer und teurer Antiepileptika unter den Rahmenbedingungen gedeckelter Budgets wirft grundsätzlich überall, wo sie eingesetzt werden sollen, Budgetprobleme und unter anderem die Frage nach Kompensationsmöglichkeiten der durch sie bedingten Mehrkosten für die Behandlung anfallskranker Patienten auf. Besonders dramatisch spitzt sich diese Frage in Gesundheitseinrichtungen zu, die auf die Behandlung anfallskranker Menschen spezialisiert sind. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden am Beispiel der Teilanstalt Bethel, einem Unternehmensbereich der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, verdeutlicht werden. Rund 1200 Menschen mit chronischen Epilepsien - die Mehrzahl mit schweren, komplizierten und therapieresistenten Epilepsien, oft mit erheblichen akuten und chronischen Folgewirkungen der Epilepsie (z.B. Sturzfolgen) sowie mit geistigen und Mehrfachbehinderungen - werden in der Teilanstalt Bethel mittel- und langfristig betreut. Alle traditionelIen Antiepileptika wurden bei der beschriebenen Klientel erprobt und werden angewandt. Dennoch ist bei rund zwei Dritteln der Klientel noch keine vollständige Anfallskontrolle, also noch keine Anfallsfreiheit, erreicht worden oder wird nur um den Preis beträchtlicher Nebenwirkungen erreichbar. Mithin sind alle
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diese Patienten Anwärter für die Erprobung und ggf. für die langfristige Behandlung mit neuen, kostenaufwendigen Antiepileptika. Unter den neuen Antiepileptika zeigte sich im Betheler Kontext namentlich das Antiepileptikum Lamotrigin (LTG) als besonders wirksam bei bislang unzulänglich kontrollierten Epilepsien. Deshalb sollen im Folgenden die kostenmäßigen Auswirkungen des Einsatzes von LTG darge-stellt werden. Im Jahre 1994 wurden in Bethel insgesamt ca. 820.000 DM für Antiepileptika aufgewandt. Rund 30 % dieses Betrages entfielen allein auf LTG. Diesem erheblichen Kostenanteil steht gegen-über, dass dieser nur für rund 100 LTG-Patienten, also etwa 8 % der gesamten anfallskranken Klientel in der Teilanstalt Bethel, aufgebracht wurde. Bedenkt man demgegenüber, dass ein mehrfach höherer Anteil chronisch Anfallskranker in der Teilanstalt Bethel für Erprobung - und im Erfolgsfall - für fortdauernde Behandlung in Frage kommt, lässt sich unschwer voraussehen, dass der Kostenaufwand für LTG dann gleichfalls um ein Mehrfaches ansteigt und den gegebe-nen Budgetrahmen zu sprengen droht. Dabei ist hier noch nicht berücksichtigt, dass sich unter den erwähnten 100 LTG-Patienten natürlich ein beträchtlicher Teil befand, der sich noch im Anfangsstadium seiner Therapie mit LTG befand und demzufolge erst noch niedrige Dosierun-gen von LTG hatte. Die Tagestherapiekosten für LTG variieren im interindividuellen Vergleich erheblich, weil hier wie bei den anderen Antiepileptika nicht mit Standarddosierungen, sondern mit individuellen Dosierungen nach Maßgabe der klinischen Effekte behandelt werden muss. Zu dieser Quelle der interindividuellen Variabilität kommt hinzu, dass notwendige Co-Medikationen – antiepilepti-sche und andere – erheblichen Einfluss auf die zur Erlangung eines bestimmten Effektes not-wendigen Antiepileptikadosierungen haben. Manche Co-Medikationen verlangen die Erhöhung der LTG-Dosis, manche die Verminderung, um einen bestimmten klinischen Effekt zu erlangen oder zu erhalten bzw. Nebenwirkungen zu vermeiden. Um eine Vorstellung von den Größenordnungen des Kostenmehraufwandes für LTG zu vermit-teln, sollen hier die Ergebnisse einer Analyse der Tagestherapiekosten an zwei Stichtagen (31.03.1994 und 31.03.1995) dargestellt werden: Eine erste Patientengruppe erhielt am ersten Stichtag noch kein LTG, sondern nur traditionelle Antiepileptika. Am zweiten Stichtag lagen die mittleren Tagestherapiekosten für LTG in dieser Gruppe bereits bei 8,86 DM. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die einzelnen Patienten am zweiten Stichtag noch in sehr unterschiedlichen Phasen ihrer individuellen LTG-Behandlung befanden. Zugleich fielen die mittleren Tagestherapiekosten für die anderen Antiepileptika vom ersten zum zweiten Stichtag von 2,94 DM auf 1,81 DM. Dieser Ersparniseffekt von durchschnitt-lich 1,13 DM gleicht natürlich den Mehraufwand für LTG nicht aus. Vielmehr entsteht ein negati-ver Nettoeffekt von durchschnittlich -7,73 DM. Auch hier sei noch eine Ergänzung angefügt: LTG war anfangs wie andere neue Antiepileptika nur als sogenanntes add-on-Präparat zuge-lassen worden. Es konnte also die vorbestehende Vormedikation schon aus rein rechtlichen Gründen nicht ohne weiteres durch LTG vollständig abgelöst werden. Aber auch wenn dies mittlerweile durch Aufhebung der zulassungsrechtlichen add-on-Bestimmung möglich ist, kann infolge der Tatsache, dass die Kosten der neuen Antiepileptika erheblich über denen der traditi-onellen Antiepileptika liegen, der Ersatz der traditionellen Antiepileptika durch neue Antiepilepti-ka nicht zur Verminderung der Tagestherapiekosten führen.
Eine zweite Patientengruppe erhielt an beiden erwähnten Stichtagen LTG. Für diese zweite Gruppe lagen am ersten Stichtag die mittleren Tagestherapiekosten für LTG noch bei 7,61 DM, am zweiten Stichtag aber schon bei 12,05 DM. Hingegen sankendie mittleren Tagestherapie-kosten für die anderen Antiepileptika von 1,70 DM auf 1,42 DM. Auch in dieser zweiten Patien-tengruppe ergibt sich aus der Verrechnung des Anstiegs der Tagestherapiekosten für LTG und der Verminderung bei den traditionellen Antiepileptika ein negativer Nettoeffekt von - 4,16 DM.
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Auch bei dieser Gruppe ist zu bedenken, dass sie im Blick auf die individuell erreichten Stadien der Therapie sehr heterogen ist.
Es ist an dieser Stelle entbehrlich, die klinischen Erfahren mit LTG in Bethel im Detail darzustel-len (vgl. Huber et al.). Es genügt sie kurz zu umreißen. Bei der oben näher charakterisierten Klientel in der Teilanstalt Bethel wurden folgende klinische Effekte registriert:
- Minderung der Frequenz der Anfälle. - Minderung der Schwere der Anfälle. - Minderung der Dauer der Anfälle. - Minderung der Häufigkeit anfallsbedingter Stürze. - Positive psychotrope Effekte (Besserung von Vigilanz und Aktivität).
Selbstverständlich variierten die Effekte, ihre quantitative Ausprägung und ihre Kombination von Fall zu Fall erheblich. Bei vielen Patienten zeigte sich kein oder kein endgültig überzeugender klinischer Effekt. Bei einigen wenigen Patienten verschlechterte sich die Anfallssituation oder es traten Nebenwirkungen auf, die den Abbruch der Behandlung mit LTG verlangten. Alles in allem stehen die Betheler Erfahrungen mit dem Antiepileptikum LTG erwartungsgemäß im Ein-klang mit den Erfahrungen anderer Autoren. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass neben den im engeren Sinne epileptologischen Effekten (verbesserte Kontrolle der Anfallssituation) auch häufig deutliche positive Effekte im psychischen Bereich (sogenannte positive psychotro-pe Effekte) unter LTG beobachtet wurden. LTG erweist sich also als wertvolle Bereicherung der Antiepileptika und gibt auch denjenigen Patienten, denen traditionelle Antiepileptika nur unzu-reichend oder nur unter beträchtlichen Nebenwirkungen helfen konnten, neue Hoffnung auf bessere Kontrolle ihrer Anfälle.
4. 2. Das Verteilungsproblem bei neuen, kostenaufwendigen Antiepileptika
Es versteht sich von selbst, dass unter der Voraussetzung gegebener („gedeckelter") Budgets eine beliebige Zunahme der LTG-Behandlungsfälle nicht ohne weiteres möglich ist, denn die dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Rahmenbedingungen sind bestenfalls in gewissen Grenzen, etwa durch kompensatorische Umschichtungen, zu verändern. Es liegt damit ein klassisches Knappheitsproblem, ein typisches Rationierungsproblem vor, bei dem eine Ent- scheidung gefällt werden muss, wie das knappe medizinische Gut verteilt werden soll. Dem Wesen nach handelt es sich dabei um eine Mikroallokationsentscheidung: Wer soll das knappe Gut erhalten, wernicht? Dabei gilt hier wie überall, dass Stellenwert, Umfang, „Schärfe" und Reichweite dieser konkreten Mikroallokationsentscheidung im ärztlichen Alltag von den voraus- gegangenen Entscheidungen auf der Ebene von Makroallokationen und Mesoallokationen ab- hängen. 4. 3. Das Desiderat verbindlicher Kriterien der adäquaten Verteilung
Es bedarf klarer und transparenter Kriterien, die sowohl in rein medizinisch-fachlicher als auch in ethischer Hinsicht eine verantwortbare Entscheidung darüber ermöglichen, wem und ggf. in welcher Reihenfolge eine Behandlung mit LTG zuteil werden soll. Der Sache nach handelt es sich also um Ein- und Ausschlusskriterien für die Behandlung mit LTG. Ein relativ einfaches Einschlusskriterium ist die medizinische lndikation, die Eignung des Antiepileptikums für die bestehenden epileptischen Anfälle bzw. das vorliegende Epilepsiesyndrom.
Wichtige, jedoch keinesfalls hinreichende Ausschlusskriterien sind natürlich das Fehlen einer medizinischen Indikation oder das Bestehen einer individuellen Kontraindikation für LTG. Dabei handelt es sich um rein fachliche Fragestellungen. (Dabei ist zu erinnern, dass in der Medizin-geschichte und auch in der Geschichte der Anwendung der Antiepileptika aus mehr oder min-der unerwarteten Einzelfallerfahrungen heraus neue Indikationsstellungen für bestimmte Thera-pieverfahren und Medikamente entwickelt wurden.)
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Die Anwendung rein medizinisch-fachlicher Ausschlusskriterien reicht jedoch mit Sicherheit nicht aus, den Kreis der Patienten, die für die Behandlung mit LTG in Frage kommen, auf den vom Budget verlangten Umfang zu reduzieren. Es braucht auf jeden Fall weitere und auch ge-rade nichtmedizinische Kriterien. Auf der Suche nach solchen Kriterien in der Fachliteratur wird man im wesentlichen erfolglos bleiben. Dabei hat man sich im vorliegenden Fall außerdem zu vergegenwärtigen, dass der einzelfallbe-zogenen Entscheidung, ob bei dem konkreten Anfallskranken das Antiepileptikum LTG einge-setzt werden soll, die Kenntnis darüber vorausgehen müsste, ob im gegebenen Einzelfall LTG überhaupt wirksam ist. Es gibt keinen verlässlichen Prädiktor, der diese Aussage schon vor der Durchführung eines konkreten – und unter Umständen langwierigen und jedenfalls selbst kos-tenträchtigen – Behandlungsversuches ermöglichen würde. Mit anderen Worten: ob überhaupt ein Effekt der Substanz LTG auftritt, muss konkret geprüft werden. Dabei ist es notwendig, vor-ab festzulegen, welche der schon erwähnten klinischen Effekte (Minderung der Anfallsfrequenz, Minderung der Anfallsschwere, psychotrope Effekte usw.) oder ihre Kombinationen bzw. welche Effektstärke als Erfolgskriterium gelten sollen und in welchem Zeitrahmen sich die Erprobung von LTG einerseits, die Beobachtung des Effekts (auf Fortbestand usw.) andererseits vollziehen soll. Da die Erkenntnis darüber, ob bei einem Patienten die Behandlung mit LTG wirksam ist – oder einen bestimmten klinischen Effekt zeitigt – nur nach einer konkreten Erprobung von LTG über einen längeren Zeitraum möglich ist, läuft dies auf die Frage hinaus, wie stark, wie umfassend muss der Therapieeffekt von LTG sein, um die Fortführung der Behandlung zu rechtfertigen? Dies gilt gerade, weil das ideale Ziel, nämlich Anfallsfreiheit ohne Nebenwirkungen, eher selten erreicht werden kann. Umgekehrt lautet die Frage: Wie schwach, wie unvollständig muss der Effekt der Behandlung mit LTG sein, um ihren Abbruch zu rechtfertigen? Unzweifelhaft bedarf es also nicht nur a priori anzuwenden-der Ein- und Ausschlusskriterien, sondern auch a posteriori anzuwendender Ausschlusskriterien aus einer unzulänglich wirksamen Therapie, gerade wenn mit den dadurch gebundenen finan-ziellen Ressourcen andernfalls Dritten „besser", „sinnvoller" etc. geholfen werden könnte. Dass sich bei Entscheidungen über den Abbruch von Therapien immer besondere grundsätzli-che Fragen stellen, ist allgemein bekannt, dass in einer individuellen Arzt-Patienten-Beziehung bei der Entscheidung über den Abbruch einer Therapie weitreichende psychologische und be-rufsethische Aspekte berührt werden, ist leicht vorstellbar. Dabei sind bereits in medizinischer Hinsicht eine Vielzahl komplizierter Fragen aufzuwerfen. Als Beispiel könnte die Frage gelten, bei welcher der möglicherweise gleichzeitig bestehenden An-fallsformen soll die kritische Bewertung des Therapieerfolgs durchgeführt werden? Soll dies allein bei Anfallsformen mit objektivem Gefahrenrisiko (z. B. Sturzanfälle) erfolgen? Soll die Be-wertung auch auf Anfälle mit weniger gefährlichen Folgen (z. B. Absenzen) ausgedehnt wer-den? Wie ist zu entscheiden, wenn bei diesen beiden Anfallsformen widersprüchliche Bewer-tungen zustande kommen? Soll die Bewertung der Effekte auf die Anfallsformen nach einem generellen Schema oder auf der Grundlage individualisierter Kriterien und/oder Prioritäten er-folgen? Wie ist zu verfahren, wenn zwar - wie in vielen Fällen - deutliche positive psychotrope Effekte festgestellt werden können, aber das Anfallsgeschehen nicht oder nur unwesentlich beeinflusst worden ist? Legitimiert allein eine subjektiv empfundene Besserung des Befindens – ein positiver psychotroper Effekt – die Fortführung der LTG-Behandlung, obwohl die Anfälle kaum oder gar nicht beeinflusst werden? Es könnten beliebig viele weitere Fragen dieser Art aufgeführt werden. Oft wird das Kriterium Lebensqualität für Therapieentscheidungen als geeignet gesehen. Dazu ist zweierlei zu sagen: Zum einen wird damit sicher ein dem einzelnen Patienten und seinen Alltagserfordernissen oft besser gerecht werdendes Kriterium als etwa die Anfallsfrequenz ein-geführt. Zum anderen abstrahieren alle Operationalisierungen von Lebensqualität auf sehr all-gemeiner Ebene und neigen überdies dazu, das komplexe Phänomen Lebensqualität auf As-pekte der Funktionalität zu reduzieren. Damit entsteht die Gefahr, Lebensqualität als Kriterium
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unter eine einseitig utilitaristische Perspektive zu stellen, Aspekte von subjektiver Zufriedenheit und Erfüllung etc. hingegen zu relativieren. Im Kontext von Behinderung stellt sich das Kriterium von Lebensqualität noch einmal speziell dar. Namentlich bei Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung oder auch mit Mehrfachbehinderungen führt eine Besserung der Anfalls-situation keineswegs zwangsläufig zu einem Gewinn an Lebensqualität - jedenfalls nicht in den Parametern operationalisierter Beschreibungen von Lebensqualität. Somit ist das Kriterium ver-besserter Lebensqualität bei diesem Personenkreis kein hinreichend geeignetes Kriterium für individuelle Therapieentscheidungen. Allein wegen eines nicht (quantitativ) fassbaren Gewinns an (operationalisierter) Lebensqualität behinderte Menschen aus einer kostenaufwendigen anti-epileptischen Therapie auszuschließen, würde einen Verstoß gegen das im Grundgesetz ver-ankerte Verbot, einen Menschen wegen seiner Behinderung zu diskriminieren, darstellen. Zu solchen heiklen Fragen wie den im Vorstehenden aufgeführten geben weder die wissen-schaftliche Fachliteratur im engeren Sinne noch der medizinische oder der gesundheitspoliti-sche Diskurs eine verbindliche Auskunft. Das ist u. a. dadurch erklärbar, dass bis in die jüngste Vergangenheit hinein – bei vergleichsweise niedrigen Preisen der traditionellen Antiepileptika und vor dem Hintergrund des Selbstkostendeckungsprinzips solche Fragen entweder als rein akademisch oder gerade bei Health Professionals mehr oder minder als „unzulässig“ galten. Das Defizit in der Beschäftigung der Epileptologen mit dieser Problematik wird u.a. mit dem Mangel solcher Themen bei einschlägigen Fachveranstaltungen belegt. Obwohl im Grunde ge-nommen solche Fragen schon immer bestanden, haben sie erst in jüngster Zeit infolge der Ab-schaffung des Selbstkostendeckungsprinzips ihre heutige Virulenz erlangt. Hingegen fehlt es weithin am inhaltlichen und am diskursmethodischen Vorlauf auf der Ebene der faktischen Trä-ger der Mikroallokationsentscheidungen – als der Ärzte und anderer Health Professionals. Da-bei wäre es durchaus möglich, dass ein qualifizierterer und öffentlicher Diskurs zu den eben dargestellten Fragen, die nachvollziehbare Darstellung der damit verbunden gesundheitspoliti-schen Folgerungen, verteilungsethischen Aspekte usw. Rückwirkungen auf die Entscheidungs-träger der Makro- und Mesoallokation nehmen könnten. Zugespitzt lässt sich das Dilemma wie folgt formulieren: Während Ärzten, Pflegekräften usw. lange Zeit die Auseinandersetzungen mit Rationierungsproblemen pauschal und von vornherein als inakzeptabel galten, wirkt sich das heute als weitgehende Unfähigkeit aus, in den aktuellen Rationierungsprozessen qualifizierte argumentative Positionen beziehen zu können. Auf jeden Fall fehlen für den ärztlichen Alltag, den Ort der Mikroallokationsentscheidungen über eine Behandlung mit einem neuen Antiepileptikum, z. B. LTG, Kriterien, die einerseits hinrei-chend klar und eindeutig, andererseits hinreichend elastisch für die konkreten Bedingungen des Einzelfalls sind, eine medizinisch-fachliche und ethisch verantwortbare Entscheidungen im Ein-zelfall treffen zu können. In einem geschlossenen Budgetrahmen ist eine solche Entscheidung zu Gunsten eines Patienten – wenigstens tendenziell – gleichzeitig eine Entscheidung zu Un-gunsten eines anderen. Im Zusammenhang der neuen Antiepileptika bedeutet über dies der nachträgliche Ausschluss eines Patienten aus der Behandlung mit LTG wegen mangelnder Wirkung wahrscheinlich gleichzeitig, dass er Kandidat für gleichfalls kostenaufwendige Antiepi-leptika ist. Mithin entlastet sein Ausschluss aus der LTG-Behandlung nicht wirklich das Budget. Die Kriterien, die in der Fachliteratur bei der statistischen Beschreibung der klinischen Wirk-samkeit eines neuen Antiepileptikums und bei seinem statistischen Vergleich mit anderen An-tiepileptika angewandt werden, sind für die Entscheidung gegenüber einem individuellen an-fallskranken Patienten ebenso untauglich wie die Kriterien in gesundheits- bzw. pharmaökono-mischen Untersuchungen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses (vgl. Beran und Pachlatko 1995), die bei der Bewertung neuer Antiepileptika verwandt und zunehmend auch für die Entschei-dungsfindung in Zulassungsverfahren herangezogen werden. Bei einer anfallskranken Klientel mit zusätzlichen Behinderungen wie in der Teilanstalt Bethel sind es übrigens oft sekundäre Therapieeffekte, z. B. positive psychotrope Effekte, die insofern einen Nutzeffekt von LTG erkennen lassen, dass tendenziell weniger intensive Betreuungs-
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