Hausärztin im kiez teil 8

Anna hat offensichtlich einen äußerst langen Atem. Ich frage mich, wann bei ihr die Grenze erreicht ist, wo sie sagt, mir reichts, ich kann nicht mehr. »Denkst du manchmal, wenn diese Kiesels doch bloß nicht mehr kämen, ich kann ihnen ja doch nicht helfen?« »Das denke ich eigentlich nicht. Ich denke, ich bin einfach jemand, den sie immer ansprechen können. So viel eicht. Ich interessiere mich ja auch für sie, natürlich nicht von der medizinischen Seite her. Ich kann denen medizinisch nicht helfen. Es gibt ja Psychiater, die denken, das sind eben Wahnsymptome, die Sache mit den Hunden und mit dem Daumen z.B. Die würden sagen, die brauchen Haldol. Ich weiß es nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass noch zu klären wäre, ob es sich bei ihnen wirklich um Schizophrenie handelt, die beiden würden so was auf keinen Fall nehmen. Jedes Mal, wenn ich versuche, ihnen die Vorteile von Haldol oder einem Klinikaufenthalt deutlich zu machen, sagen sie: Wir sind doch nicht verrückt. Und das war‘s dann zu dem Thema.« Viel eicht ahnt Anna, worauf ich mit meiner letzten Frage hinauswol - te. Jedenfalls ist es ihr an dieser Stelle wichtig, dass bei mir kein Miss- verständnis aufkommt. Sie sagt: »Also, meine schwierigsten Patienten sind bestimmt nicht die mehr oder minder schizophrenen Menschen. Sie tauchen eben ab und zu in der Praxis auf und sind meistens ziemlich interessant, auch wenn sich manches im Nachhinein lustiger erzählen lässt, als es mir aktuell vorgekommen ist.« »So wie die Geschichte mit den Hunden?« »Ja, die zwei Kiesel-Frauen mit den Hunden sind übrigens auch des- halb eine Zeit lang täglich zu mir gekommen, weil einer der Hunde gestorben war. Den hatten sie begraben, fragten sich aber jeden Tag aufs Neue, ob er auch wirklich tot ist, ob sie ihn nicht viel eicht aus Versehen lebendig begraben haben. Und deshalb buddelten sie ihn jeden Tag wieder aus, um sich von seinem Zustand zu überzeugen. Wenn sie dann etwas Bewegtes an dem Kadaver sahen, kamen ihnen Zweifel. Ich musste sie ziemlich lange täglich beruhigen: Sie haben nichts Falsches »Welches sind denn für dich die schwierigsten Patienten?« »Das sind die vielen Depressiven. Sie machen mir die allermeisten Probleme. Es gibt immer mehr richtig tief greifend depressive Men- schen. Das hängt eindeutig mit der Arbeitslosigkeit zusammen. Von den Menschen, die in meine Praxis kommen, haben höchstens noch 30 % eine Arbeit oder beziehen Rente. Und mindestens die Hälfte von denen ohne Arbeit leidet an Depressionen. Unglaublich viele meiner Leute sind in den letzten drei bis vier Jahren arbeitslos geworden. Das sind ganz un- spektakuläre Patienten, von denen sich keine interessanten Geschichten erzählen lassen. Es handelt sich einfach um Verarmungsprozesse, auf die die Menschen mit Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden reagieren. Das sind die psychisch Kranken, die meine Praxis wirklich prägen. Das sind Maurer oder Leute, die bei der AEG gearbeitet haben. Die haben in ihrem ganzen Leben kein Hobby entwickelt. Die Arbeit war ihr Leben. Solche Menschen gehen mit depressiven Beschwerden nicht zum Psychiater. Manche von denen, die arbeitslos geworden sind, wol en frühzeitig in Rente, weil sie sich zu krank und zu unflexibel fühlen, um noch irgendeine weit entfernt liegende Arbeit anzunehmen. Von ihren Gutachtern werden sie aber häufig als voll einsatzfähig angesehen. Es gibt Berge von Schriftverkehr wegen dieser Menschen.« »Kannst du denn diese ganze schriftliche Arbeit neben al em anderen »Ich muss zugeben, dass ich damit nicht mehr nachkomme, aber von den meisten Anträgen auf vorzeitige Berentung weiß ich, dass ihre Bearbeitung sinnlos ist, da sie sowieso nicht anerkannt werden.« »Wie hoch schätzt du den Anteil psychisch kranker Menschen in »Ich schätze, dass 60 % meiner Klientel nicht im eigentlichen Sinne körperlich krank sind. Diese Menschen leiden an sozialen Krankheiten in der Art, wie ich es versucht habe, deutlich zu machen. In diesem Zusammenhang ist auch der Alkoholismus gestiegen. Ohne diese Leute wäre ich fast arbeitslos. Es werden immer mehr. Die eigentliche Therapie müsste hier von der Sozialpolitik geleistet werden. Die Arbeit mit diesem Klientel ist nicht interessant, sondern sehr bedrückend. Es sind al es Menschen mit Problemlagen, die mich sehr hilflos machen. Besonders schlimm ist die Arbeitslosigkeit bei den Bosniern, Serben und Kroaten. Die Kroaten kommen noch ein bisschen besser durch. Sie sind meistens Anna wirkt bei dieser Schilderung mitgenommen. In bestimmter Hinsicht ist sie nicht stark. Sie strahlt weder Dominanz noch Uner- schütterlichkeit aus. Ihre Stärke kommt eher aus einer intensiven, nicht fixierenden, sondern schwebenden Konzentration auf ihr Gegenüber. Dadurch bleibt sie immer berührbar. Sie hat kein dickes Fell. Sie ist aus der Ruhe zu bringen. Sie nimmt die Unruhe ihres Gegenübers auf. Aber Durch ihre Art gelingt es Anna, auch solche Menschen längerfristig an sich zu binden, die sonst allen Bindungen und Verpflichtungen auswei- chen. Auf Nachfrage höre ich, dass auch Isabell trotz ihrer nun wieder gefährlicheren Lebensweise auf dem Strich weiterhin den Kontakt zur Praxis hält. Wenn sie das Methadon abholt, ergeben sich für Anna im- mer wieder kurze Möglichkeiten zum Gespräch. Ein wenig erfährt sie so von Isabells früherem und ihrem jetzigen Leben. Sie ist seit dem zweiten Lebensjahr von ihrem Pflegevater missbraucht und dann ihre ganze Kindheit über auch an seine Freunde ›weitergege- ben‹ worden. Für sie ist diese Lebensweise, so makaber es klingen mag, immer Normalität gewesen. Viel zu spät beginnt sie zu ahnen, dass sie auch anders leben könnte. Ab und zu beschließt sie, ihr Leben zu ändern, doch über kurz oder lang zieht sie sich wieder zurück auf das, was sie kennt. Ihre Hoffnungskeime gewinnen keine Lebenskraft. Aids wirft Schatten, bestimmt den Horizont ihres Lebens. Es lohnt doch Sie erzählt Anna von den Freiern, die sie mit nach Hause nehmen, schildert genau, wie sie sich auszieht, was sie von ihr wollen, wie sie es macht. Anna sagt: »Sie hat das ganze einschlägige obszöne Vokabular drauf.« Es sei so deprimierend, dass ein Mensch wie Isabell, die sich im Rahmen der Praxis immer höflich und nett benimmt, die ein angenehmes Wesen hat, intel igent und aufgeschlossen wirkt, so eine ganz andere Seite lebt. »Wenn du solche Dinge im Allgemeinen hörst, erschüttert es dich nicht, du urteilst gewöhnlich nicht, aber wenn du das so speziell hörst und auf einen Menschen beziehen musst, den du kennst, den du jeden Tag betreust und der dir am Herzen liegt wie Isabel , das erschreckt dich dann doch. Du fragst dich, was soll die mit ihren dreizehn Jahren noch alles durchmachen? Das kannst du dir manchmal gar nicht vorstellen. Für mich ist es eine gewisse Hilfe, dass die Methadon substituierenden Ärzte Berlins sich jetzt einmal im Monat treffen, denn das ist wirklich eine schmutzige Medizin. Du hörst so viel, was du eigentlich gar nicht Inzwischen weiß Anna, dass Isabell mehrfach in Erziehungsheimen war und jedes Mal ausgerissen ist. Sie hat ihre eigene Überlebenstaktik entwickelt. Der Jugendamtsbetreuer, der ihr zugeordnet wurde, kommt mit ihr überhaupt nicht klar. Deswegen wurde sie zu Anna geschickt. Ich berühre einen heiklen Punkt, als ich frage: »Wenn sich Isabel mit Aids auf dem Strich herumtreibt, steckt sie da nicht andere an?« Anna stöhnt: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen von ihr schon krank sind. Es ist eigentlich unverantwortlich. Auch ich habe immer wieder versucht, das Mädchen in irgendein Heim zu bringen. Es gibt wirklich Grund genug, sie einzusperren. Wegen des Aids wäre es das Richtige. Aber das ist mit ihr nicht zu machen.« Ziemlich verzweifelt fügt sie hinzu: »Ich weiß auch nicht. Kann das denn überhaupt so sein? Ich verstehe nicht, dass ein Mädchen, das dreizehn ist, von keinem eingesperrt werden kann. Sich mit zehn oder dreizehn prostituieren, wie sie es gemacht hat, das darf man offensichtlich. Auch die anderen Drogenabhängigen, die ich betreue, sind ja größtenteils aidskrank und prostituieren sich. Sie stecken natürlich alle möglichen Leute an. Es ist verrückt, dass niemand diese Szene beeinflussen kann. Viele von ihnen wären übrigens nicht zur Prostitution gekommen, wenn sie nicht den »Ein regelrechter Teufelskreis. Lässt sich da wirklich nichts tun?« »Kontrol ierte Heroinabgabe wäre eine Hilfe und würde auch die Ausbreitung von Aids eindämmen. Auch Aufklärung ist natürlich wich- tig. Mit Isabell bin ich über Aidsschutz ständig im Gespräch. Ich frage sie immer: Machst du das richtig mit dem Kondom? Du musst daran denken, du kannst nicht einfach Menschen umbringen, das darf keiner. Sie verspricht es mir immer wieder, dass sie darin ordentlich ist. Aber wenn sie dann Drogen genommen hat, was weiß ich, was sie dann alles macht. Durch diese wilde Gegend hier gibt es sowieso Gefahren in alle Im Sommer 1999 ist Anna dennoch ein kleines Wunder gelungen. Da sie bemerkt hat, wie intelligent Isabell ist, hat sie ihr Sophies Welt zu lesen gegeben. Hat ihr eine leere Kassette ausgehändigt und sie ge- beten, laut zu lesen und den Text für eine blinde Frau aufzunehmen. Mit ihrer Autorität als Frau Doktor erklärte sie diese Aktion zu Isabells Arbeitsprogramm und verpflichtete sie, jeden Tag eine halbe Stunde zu lesen. Das hat wider Erwarten gut geklappt. »Sie liest und unterhält sich mit mir darüber. Da ist sie so aufgeschlossen, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, dass sie so ganz in dieser anderen Welt drin ist.« Anna gibt sich zwar keinen Illusionen hin, aber sie lässt sich von schein- bar ausweglosen Situationen auch nicht lähmen. Durch ihre Bereitschaft, sich auf Ungewöhnliches einzulassen, findet sie oft auch dort noch Wege, wo andere schon längst aufgeben haben. Ein eindrucksvol es Beispiel dafür ist die Geschichte von Verena Sürig und Jens Gerstein. Jens Gerstein gehörte zu Annas ersten Methadonpat- ienten. Eines Tages, vor etwa acht Jahren, brachte er in der Sprechstunde stockend und vorsichtig ein Anliegen vor. Er sagte: »Meine Freundin Verena kann nicht mehr raus. Es zieht ihr. Sie braucht Methadon, aber ihr Arzt will es ihr nicht mehr geben, wenn sie nicht selber kommt. Er verweigert die Behandlung. Sie kann aber nicht mehr rausgehen und es abholen. So geht es nicht weiter. Sie braucht unbedingt einen Arzt – können Sie nicht mal nach ihr sehen?« Natürlich fuhr Anna hin. Eine Wohnung konnte man das, was sie damals betrat, eigentlich nicht nennen. Die beiden hausten regelrecht zusammen, lebten vollkommen isoliert. Sie hatten keinen Strom, kein Licht, kaum Wasser. Wie sie mit dem tröpfelnden Wasserhahn so lange ausgekommen waren, blieb ein Rätsel. Damals wusste Anna noch nicht, dass sie gerade dabei war, mit Jens Gersteins Freundin ihre zukünftige Sprechstundenhilfe kennen zu lernen. Verena Sürig war zu dem Zeit- punkt bereits seit zwanzig Jahren drogenabhängig. Von diesen zwanzig Jahren hatte sie die letzten zwei im Bett verbracht. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Arzt die weitere Versorgung mit Methadon verweigerte, war ihr Freund rausgegangen und hatte es für sie geholt. Anna erinnert sich gut: »Sie lag im Bett, ganz zugemummelt in einem vollkommen abge-

Source: http://www.psychiatrie-verlag.de/fileadmin/storage/dokumente/Diverse/ZusatzmaterialService/Internetroman/Schernus_HIK/HIK-Teil_8_Das_Schwierigste__Isabell_-_leben_in_zwei_Welten.pdf

Microsoft word - convención interamericana para prevenir y sancionar la tortura.doc

Convención Interamericana Para Prevenir y Sancionar la Tortura Los Estados Americanos signatarios de la presente Convención, Conscientes de lo dispuesto en la Convención Americana sobre Derechos Humanos, en el sentido de que nadie debe ser sometido a tortura ni a penas o tratos crueles, inhumanos o degradantes; Reafirmando que todo acto de tortura u otros tratos o penas crueles

Coa-pi-901602416.docx

Material Safety Data Sheet Section 1 - Chemical Product and Company Identification Building B, 633 E Shan Road, Pudong New Area Section 2 - Product Information Section 3 - Physical and Chemical Properties Section 4 - Hazards Identification Causes skin irritation. Harmful if absorbed through the skin. May cause irritation of the digestive tract. Toxic if swallowed.

Copyright © 2018 Medical Abstracts