Anna hat offensichtlich einen äußerst langen Atem. Ich frage mich,
wann bei ihr die Grenze erreicht ist, wo sie sagt, mir reichts, ich kann
nicht mehr. »Denkst du manchmal, wenn diese Kiesels doch bloß nicht
mehr kämen, ich kann ihnen ja doch nicht helfen?«
»Das denke ich eigentlich nicht. Ich denke, ich bin einfach jemand,
den sie immer ansprechen können. So viel eicht. Ich interessiere mich ja
auch für sie, natürlich nicht von der medizinischen Seite her. Ich kann
denen medizinisch nicht helfen. Es gibt ja Psychiater, die denken, das
sind eben Wahnsymptome, die Sache mit den Hunden und mit dem
Daumen z.B. Die würden sagen, die brauchen Haldol. Ich weiß es nicht.
Mal ganz abgesehen davon, dass noch zu klären wäre, ob es sich bei
ihnen wirklich um Schizophrenie handelt, die beiden würden so was auf
keinen Fall nehmen. Jedes Mal, wenn ich versuche, ihnen die Vorteile
von Haldol oder einem Klinikaufenthalt deutlich zu machen, sagen sie:
Wir sind doch nicht verrückt. Und das war‘s dann zu dem Thema.«
Viel eicht ahnt Anna, worauf ich mit meiner letzten Frage hinauswol -
te. Jedenfalls ist es ihr an dieser Stelle wichtig, dass bei mir kein Miss-
verständnis aufkommt. Sie sagt: »Also, meine schwierigsten Patienten
sind bestimmt nicht die mehr oder minder schizophrenen Menschen.
Sie tauchen eben ab und zu in der Praxis auf und sind meistens ziemlich
interessant, auch wenn sich manches im Nachhinein lustiger erzählen
lässt, als es mir aktuell vorgekommen ist.«
»So wie die Geschichte mit den Hunden?«
»Ja, die zwei Kiesel-Frauen mit den Hunden sind übrigens auch des-
halb eine Zeit lang täglich zu mir gekommen, weil einer der Hunde
gestorben war. Den hatten sie begraben, fragten sich aber jeden Tag
aufs Neue, ob er auch wirklich tot ist, ob sie ihn nicht viel eicht aus
Versehen lebendig begraben haben. Und deshalb buddelten sie ihn jeden
Tag wieder aus, um sich von seinem Zustand zu überzeugen. Wenn sie
dann etwas Bewegtes an dem Kadaver sahen, kamen ihnen Zweifel. Ich
musste sie ziemlich lange täglich beruhigen: Sie haben nichts Falsches
»Welches sind denn für dich die schwierigsten Patienten?«
»Das sind die vielen Depressiven. Sie machen mir die allermeisten
Probleme. Es gibt immer mehr richtig tief greifend depressive Men-
schen. Das hängt eindeutig mit der Arbeitslosigkeit zusammen. Von den
Menschen, die in meine Praxis kommen, haben höchstens noch 30 %
eine Arbeit oder beziehen Rente. Und mindestens die Hälfte von denen
ohne Arbeit leidet an Depressionen. Unglaublich viele meiner Leute sind
in den letzten drei bis vier Jahren arbeitslos geworden. Das sind ganz un-
spektakuläre Patienten, von denen sich keine interessanten Geschichten
erzählen lassen. Es handelt sich einfach um Verarmungsprozesse, auf die
die Menschen mit Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden
reagieren. Das sind die psychisch Kranken, die meine Praxis wirklich
prägen. Das sind Maurer oder Leute, die bei der AEG gearbeitet haben.
Die haben in ihrem ganzen Leben kein Hobby entwickelt. Die Arbeit war
ihr Leben. Solche Menschen gehen mit depressiven Beschwerden nicht
zum Psychiater. Manche von denen, die arbeitslos geworden sind, wol en
frühzeitig in Rente, weil sie sich zu krank und zu unflexibel fühlen, um
noch irgendeine weit entfernt liegende Arbeit anzunehmen. Von ihren
Gutachtern werden sie aber häufig als voll einsatzfähig angesehen. Es
gibt Berge von Schriftverkehr wegen dieser Menschen.«
»Kannst du denn diese ganze schriftliche Arbeit neben al em anderen
»Ich muss zugeben, dass ich damit nicht mehr nachkomme, aber
von den meisten Anträgen auf vorzeitige Berentung weiß ich, dass ihre
Bearbeitung sinnlos ist, da sie sowieso nicht anerkannt werden.«
»Wie hoch schätzt du den Anteil psychisch kranker Menschen in
»Ich schätze, dass 60 % meiner Klientel nicht im eigentlichen Sinne
körperlich krank sind. Diese Menschen leiden an sozialen Krankheiten
in der Art, wie ich es versucht habe, deutlich zu machen. In diesem
Zusammenhang ist auch der Alkoholismus gestiegen. Ohne diese Leute
wäre ich fast arbeitslos. Es werden immer mehr. Die eigentliche Therapie
müsste hier von der Sozialpolitik geleistet werden. Die Arbeit mit diesem
Klientel ist nicht interessant, sondern sehr bedrückend. Es sind al es
Menschen mit Problemlagen, die mich sehr hilflos machen. Besonders
schlimm ist die Arbeitslosigkeit bei den Bosniern, Serben und Kroaten.
Die Kroaten kommen noch ein bisschen besser durch. Sie sind meistens
Anna wirkt bei dieser Schilderung mitgenommen. In bestimmter
Hinsicht ist sie nicht stark. Sie strahlt weder Dominanz noch Uner-
schütterlichkeit aus. Ihre Stärke kommt eher aus einer intensiven, nicht
fixierenden, sondern schwebenden Konzentration auf ihr Gegenüber.
Dadurch bleibt sie immer berührbar. Sie hat kein dickes Fell. Sie ist aus
der Ruhe zu bringen. Sie nimmt die Unruhe ihres Gegenübers auf. Aber
Durch ihre Art gelingt es Anna, auch solche Menschen längerfristig an
sich zu binden, die sonst allen Bindungen und Verpflichtungen auswei-
chen. Auf Nachfrage höre ich, dass auch Isabell trotz ihrer nun wieder
gefährlicheren Lebensweise auf dem Strich weiterhin den Kontakt zur
Praxis hält. Wenn sie das Methadon abholt, ergeben sich für Anna im-
mer wieder kurze Möglichkeiten zum Gespräch. Ein wenig erfährt sie
so von Isabells früherem und ihrem jetzigen Leben.
Sie ist seit dem zweiten Lebensjahr von ihrem Pflegevater missbraucht
und dann ihre ganze Kindheit über auch an seine Freunde ›weitergege-
ben‹ worden. Für sie ist diese Lebensweise, so makaber es klingen mag,
immer Normalität gewesen. Viel zu spät beginnt sie zu ahnen, dass
sie auch anders leben könnte. Ab und zu beschließt sie, ihr Leben zu
ändern, doch über kurz oder lang zieht sie sich wieder zurück auf das,
was sie kennt. Ihre Hoffnungskeime gewinnen keine Lebenskraft. Aids
wirft Schatten, bestimmt den Horizont ihres Lebens. Es lohnt doch
Sie erzählt Anna von den Freiern, die sie mit nach Hause nehmen,
schildert genau, wie sie sich auszieht, was sie von ihr wollen, wie sie es
macht. Anna sagt: »Sie hat das ganze einschlägige obszöne Vokabular
drauf.« Es sei so deprimierend, dass ein Mensch wie Isabell, die sich im
Rahmen der Praxis immer höflich und nett benimmt, die ein angenehmes
Wesen hat, intel igent und aufgeschlossen wirkt, so eine ganz andere Seite
lebt. »Wenn du solche Dinge im Allgemeinen hörst, erschüttert es dich
nicht, du urteilst gewöhnlich nicht, aber wenn du das so speziell hörst
und auf einen Menschen beziehen musst, den du kennst, den du jeden
Tag betreust und der dir am Herzen liegt wie Isabel , das erschreckt dich
dann doch. Du fragst dich, was soll die mit ihren dreizehn Jahren noch
alles durchmachen? Das kannst du dir manchmal gar nicht vorstellen.
Für mich ist es eine gewisse Hilfe, dass die Methadon substituierenden
Ärzte Berlins sich jetzt einmal im Monat treffen, denn das ist wirklich
eine schmutzige Medizin. Du hörst so viel, was du eigentlich gar nicht
Inzwischen weiß Anna, dass Isabell mehrfach in Erziehungsheimen
war und jedes Mal ausgerissen ist. Sie hat ihre eigene Überlebenstaktik
entwickelt. Der Jugendamtsbetreuer, der ihr zugeordnet wurde, kommt
mit ihr überhaupt nicht klar. Deswegen wurde sie zu Anna geschickt.
Ich berühre einen heiklen Punkt, als ich frage: »Wenn sich Isabel mit
Aids auf dem Strich herumtreibt, steckt sie da nicht andere an?«
Anna stöhnt: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen von ihr schon
krank sind. Es ist eigentlich unverantwortlich. Auch ich habe immer
wieder versucht, das Mädchen in irgendein Heim zu bringen. Es gibt
wirklich Grund genug, sie einzusperren. Wegen des Aids wäre es das
Richtige. Aber das ist mit ihr nicht zu machen.« Ziemlich verzweifelt
fügt sie hinzu: »Ich weiß auch nicht. Kann das denn überhaupt so sein?
Ich verstehe nicht, dass ein Mädchen, das dreizehn ist, von keinem
eingesperrt werden kann. Sich mit zehn oder dreizehn prostituieren,
wie sie es gemacht hat, das darf man offensichtlich. Auch die anderen
Drogenabhängigen, die ich betreue, sind ja größtenteils aidskrank und
prostituieren sich. Sie stecken natürlich alle möglichen Leute an. Es ist
verrückt, dass niemand diese Szene beeinflussen kann. Viele von ihnen
wären übrigens nicht zur Prostitution gekommen, wenn sie nicht den
»Ein regelrechter Teufelskreis. Lässt sich da wirklich nichts tun?«
»Kontrol ierte Heroinabgabe wäre eine Hilfe und würde auch die
Ausbreitung von Aids eindämmen. Auch Aufklärung ist natürlich wich-
tig. Mit Isabell bin ich über Aidsschutz ständig im Gespräch. Ich frage
sie immer: Machst du das richtig mit dem Kondom? Du musst daran
denken, du kannst nicht einfach Menschen umbringen, das darf keiner.
Sie verspricht es mir immer wieder, dass sie darin ordentlich ist. Aber
wenn sie dann Drogen genommen hat, was weiß ich, was sie dann alles
macht. Durch diese wilde Gegend hier gibt es sowieso Gefahren in alle
Im Sommer 1999 ist Anna dennoch ein kleines Wunder gelungen.
Da sie bemerkt hat, wie intelligent Isabell ist, hat sie ihr Sophies Welt
zu lesen gegeben. Hat ihr eine leere Kassette ausgehändigt und sie ge-
beten, laut zu lesen und den Text für eine blinde Frau aufzunehmen.
Mit ihrer Autorität als Frau Doktor erklärte sie diese Aktion zu Isabells
Arbeitsprogramm und verpflichtete sie, jeden Tag eine halbe Stunde
zu lesen. Das hat wider Erwarten gut geklappt. »Sie liest und unterhält
sich mit mir darüber. Da ist sie so aufgeschlossen, dass du dir gar nicht
vorstellen kannst, dass sie so ganz in dieser anderen Welt drin ist.«
Anna gibt sich zwar keinen Illusionen hin, aber sie lässt sich von schein-
bar ausweglosen Situationen auch nicht lähmen. Durch ihre Bereitschaft,
sich auf Ungewöhnliches einzulassen, findet sie oft auch dort noch
Wege, wo andere schon längst aufgeben haben.
Ein eindrucksvol es Beispiel dafür ist die Geschichte von Verena Sürig
und Jens Gerstein. Jens Gerstein gehörte zu Annas ersten Methadonpat-
ienten. Eines Tages, vor etwa acht Jahren, brachte er in der Sprechstunde
stockend und vorsichtig ein Anliegen vor. Er sagte: »Meine Freundin
Verena kann nicht mehr raus. Es zieht ihr. Sie braucht Methadon, aber
ihr Arzt will es ihr nicht mehr geben, wenn sie nicht selber kommt. Er
verweigert die Behandlung. Sie kann aber nicht mehr rausgehen und
es abholen. So geht es nicht weiter. Sie braucht unbedingt einen Arzt
– können Sie nicht mal nach ihr sehen?«
Natürlich fuhr Anna hin. Eine Wohnung konnte man das, was sie
damals betrat, eigentlich nicht nennen. Die beiden hausten regelrecht
zusammen, lebten vollkommen isoliert. Sie hatten keinen Strom, kein
Licht, kaum Wasser. Wie sie mit dem tröpfelnden Wasserhahn so lange
ausgekommen waren, blieb ein Rätsel. Damals wusste Anna noch nicht,
dass sie gerade dabei war, mit Jens Gersteins Freundin ihre zukünftige
Sprechstundenhilfe kennen zu lernen. Verena Sürig war zu dem Zeit-
punkt bereits seit zwanzig Jahren drogenabhängig. Von diesen zwanzig
Jahren hatte sie die letzten zwei im Bett verbracht. Bis zu dem Zeitpunkt,
an dem der Arzt die weitere Versorgung mit Methadon verweigerte, war
ihr Freund rausgegangen und hatte es für sie geholt. Anna erinnert sich
gut: »Sie lag im Bett, ganz zugemummelt in einem vollkommen abge-
Convención Interamericana Para Prevenir y Sancionar la Tortura Los Estados Americanos signatarios de la presente Convención, Conscientes de lo dispuesto en la Convención Americana sobre Derechos Humanos, en el sentido de que nadie debe ser sometido a tortura ni a penas o tratos crueles, inhumanos o degradantes; Reafirmando que todo acto de tortura u otros tratos o penas crueles
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