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Wirtschaftsarchiv des Jahres 2002
Kohle – Kumpel – Kultur
Laudatio auf Evelyn Kroker: "Das Bergbau-Archiv"
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, stimmt es, dass Napoleon bei der Schlacht von Austerlitz in seinem Feldherrenmantel Diamanten im Wert von 1,5 Millionen eingenäht hatte? Wann und wen hatte der Abgeordnete F. im Bundestag als „Armleuchter“ bezeichnet? Schlug Generalsekretär Nikita Chrutschtschow während einer Rede mit seinem linken oder seinem rechten Schuh auf das Pult? Wem verdankt ein großer Chemiekonzern die Entdeckung der neuen Potenzpille Vardenafil? Oder auch: Wie heißt das Verfahren, mit dem saure Eisenerze wirtschaftlich verhüttet werden können (Paschke-Peetz)? Das alles und noch viel mehr wissen Archive. Archive wissen einfach alles. Sie sind das kollektive Gedächtnis einer Volkswirtschaft. Und sie versetzen Journalisten in den glücklichen Zustand, immer alles besser wissen zu können. Sie mögen mir die eindimensionale Betrachtung der archivarischen Arbeit gestatten: Ein Journalist liefert ihr zwar manches zu, aber sein Geschriebenes und Gesendetes ist für ihn vergessen, Vergangenheit, Ablage. Er ist vor allem Nutzer der archivarischen Arbeit. Er schätzt ihre Dienstleistung: schnell, kompetent, exakt. Sie haben ihre Tagung unter das zutreffende Motto „Erinnern im Informationszeitalter“ gestellt. Sie sind die Festplatte unserer Wirtschaftsgesellschaft. Oder wie der frühere Bundespräsident Roman Herzog es ausdrückte: „Zukunft gibt es nicht ohne Herkunft“ Und ich füge hinzu: ohne Auskunft auch nicht. Zwischen Historikern tobt der ewige Streit, ob sich Geschichte immer wiederholt oder nie – eine müßige Frage. Dennoch ist eine Gesellschaft nicht zukunftsfähig, wenn sie ihre Erinnerung gering schätzt. Sie ist ein Schatz, dem man nur dann etwas entnehmen kann, wenn man ihm täglich etwas hinzufügt. Frau Dr. Evelyn Kroker legt mit ihrem Kompendium „Das Bergbau-Archiv und seine Bestände“ einen solchen Schatz vor. Der Jury fiel es leicht, ihr dafür den Preis „Wirtschaftsarchiv des Jahres“ zu verleihen. Dies obgleich Sie, verehrte Frau Kroker, ihrem Vorwort die ironische Bemerkung voranstel ten: „Akten und Benutzer sind die ärgsten Feinde des Archivars“. Ich gestatte mir, diese Satire leicht zu korrigieren: Was wären Archive ohne verstaubte Akten und ohne lästige Nutzer? Die Kroker-Sammlung – fast 600 Seiten – spiegelt den Aufstieg, die Blüte, den Strukturwandel und das letztliche Erlöschen eines volkswirtschaftlichen Segments wider. Das rheinisch-westfälische Kohlenrevier als Zentrum war über Jahrzehnte der Humus, auf dem Arbeit und Wohlstand wuchsen. Der Bergbau war im Deutschen Reich, in Weimar und auch in der jungen Bundesrepublik ein Synonym für wirtschaftlichen Aufbruch, für Prosperität. Um ihn rankte sich eine eigenständige Kultur, deren Erinnerung sich nicht nur in Zechen und Produktionsziffern erschöpft. Wie stark diese einst blühende Branche heute weitgehend auf einen Subventionstatbestand reduziert ist, zeigt die letzte Woche. Um die Kohlesubventionen bis zum Jahre 2010 zu sichern, musste die deutsche Bundesregierung als Gegenleistung den Spediteuren in Frankreich, Italien und den Niederlanden weitere Mineralölsteuervergünstigungen einräumen. Ein peinlicher Kuhhandel nach Brüsseler Art: Duldest du meine marktwidrige Subvention, dann dulde ich deine – ebenfalls marktwidrige – Subvention. Das Kroker-Kompendium bietet eine unglaubliche Fülle von Beständen – besser: Erinnerungen -, lesefreundlich gestaltet und grafisch ansprechend gegliedert. Als Journalist hat mich besonders beeindruckt, dass man hier nicht nur alles über Kohle und Erze, Zechen und Syndikate, Verhüttung und Gruben erfährt. Es kommen auch Menschen vor, ihre Schicksale in zwei schrecklichen Kriegen und als sie die Ärmel aufkrempelten. Trümmerfelder und Dividenden, der Hauer auf Zeche Sophia-Jacoba und sein Schulzeugnis. Die Skala reicht von den schwarzen Göttern – dem Generaldirektor und Assessor des Bergfachs - bis zum Obersteiger Friedrich Koch oder dem Hauer Heinrich Löffler. Gewiss lesen sich derartige Sammelwerke nicht wie ein Krimi herunter. Aber spannend können sie gleichwohl sein. Man erfährt nicht nur alles über die wirtschaftspolitischen Kämpfe, sondern auch viel über Lebensbedingungen, über Löhne, über technische Probleme unter Tage, über königliche Bergbauerlasse und die Entnazifizierung, über Bergmannspredigten und das soziale Leben. Der Leser bekommt einen Eindruck, warum sich um das einst „schwarze Gold“ eine eigene, ziemlich geschlossene, aber höchst selbstbewusste Kultur rankte. Insofern ist das Sammelwerk, das wir heute auszuzeichnen die Ehre haben, auch ein Beitrag zur sozialen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Evelyn Kroker möchte, so sagt sie, keinen Beitrag zur Nostalgie eines nahezu abgeschlossenen Kapitels unserer Wirtschaftsgeschichte leisten. Dennoch füttert sie unsere nostalgischen Anwandlungen über diese Ära ausgiebig. Ständig waren die Archivare auf der Suche nach Akten und Notizen – kein leichtes und schon gar kein beliebtes Geschäft. Diese ehrgeizige Sammelwut galt nur einem Ziel: der Erinnerung. Sie habe sich stets über die vielen langweiligen Beständeübersichten geärgert, gesteht Frau Kroker heute. Mit ihrem Buch ist ihr in der Tat eine treffliche Verpackung gelungen. „Wir sind immer nur bei Grubenunglücken um Auskunft gefragt worden,“ sagt sie heute. In dreißig Jahren hat sie auf zahllosen Reisen durch die Reviere für diese Erinnerung und Bewahrung geworben. Mit Jeans und Pulli sei sie eingefahren, erinnert sie sich, und hat bei Bergwerksdirektoren für die Archivierung geworben. „Guten Tag, gnädige Frau“, so wurde sie in den piekfeinen getäfelten Kontoren begrüßt – schließlich war sie eine Promovierte. So ist das Buch die Frucht eines Netzwerks von Beziehungen, das über Jahrzehnte geknüpft wurde – eine beeindruckende Lebensleistung. Leider ist die kollektive Erinnerung im Archivwesen keine Bringschuld der handelnden Unternehmen und Manager. Sie ist eine Holschuld. Oder wie Evelyn Kroker es mir sagte: „Kein Blatt kommt von alleine ins Archiv.“ Als Journalist beeindruckt mich deshalb auch diese mühsame Form der Recherche. Sie leistete damit zugleich wichtige wissenschaftliche Beiträge, wie Professor Dietmar Petzina von Bochumer Ruhr-Universität zutreffend anmerkte. Erwähnt sei hier nur das Projekt „Zwangsarbeiter im deutschen Kohlenbergbau“, das wesentlich auf die Arbeiten von Frau Kroker zurückgriff. „Wenn wir auftauchten, ging es zu Ende,“ erinnert sie sich an die Kette der Bergbaukrisen, die bereits Ende der fünfziger Jahre begann und sich dann in Schüben bis heute fortsetzte. Diese gewiss schmerzliche Erfahrung schimmert in vielen Beständen durch. Das heute mit dem Preis „Wirtschaftsarchiv des Jahres“ ausgezeichnete Kompendium birgt freilich genau dadurch einen unvergleichlichen Vorzug: Es spiegelt ein nahezu abgeschlossenes Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte wider. Gestatten Sie, meine Damen und Herren, noch eine geschlechtsspezifische Anmerkung. Der Bergbau war und ist eine reine Männergesellschaft: geschlossen, kompakt, mit strengem Reglement und einem selbstbewussten Komment. Frauen hatten darin nichts zu suchen – ausgenommen natürlich Evelyn Kroker, pardon: Frau Doktor Kroker. Die Männerwelt hat ein Produkt, ein Segment und eine Technologie entdeckt, erfinderisch genutzt, ausgebeutet, zu einer eindrucksvollen Blüte geführt und danach in Krise und Untergang geführt. Aber es sind die Frauen, die die Reste und Hinterlassenschaft dieser Männerwelt zusammenkehren und die Erinnerung bewahren. Denn das Team von Frau Kroker bestand ausschließlich aus Frauen. Ich wünsche mir, dass diese Arbeitsteilung für keine Branche und keine Zeit ein Vorbild sein mag. Evelyn Kroker übergibt diesen Schatz nun ihrem Nachfolger Michael Farrenkopf. Wie jedes Erbe muss man auch dieses täglich neu erwerben und es pflegen, damit man es besitzen kann. Erinnerung im Informationszeitalter? Lässt sich per Mausklick die Herkunft herbeizaubern, um durch Auskunft die Zukunft zu gewinnen? Eine etwas schlichte Betrachtungsweise, meine ich. Unsere angebliche Informationsgesellschaft, die bereits bei einer Pisa-.Studie durchfällt, sollte sich auch daran erinnern: Der Computer kann alles – aber sonst kann er nichts. Auch künftig werden es immer Menschen sein, die die Festplatte unserer Erinnerung füttern. Nur sie entscheiden, was schließlich auf unserer Benutzeroberfläche erscheint. Sie geben der Erinnerung jene Ordnung, die sie nie hatte, als sie noch Gegenwart war. Ihre Energie, ihre Sammelwut und ihr Ehrgeiz haben Zechen und Schicksale strukturiert, damit die Nachgeborenen sie verstehen. Zu diesem Prozess haben Sie einen wichtigen Beitrag geleistet. Verehrte Frau Doktor Kroker – Dank und herzlichen Glückwunsch von der Jury der Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare. Oder, wie man in Ihren Kreisen sagt: ein herzliches Glückauf!

Source: http://www.wirtschaftsarchive.de/vdw/archivwesen/preis-der-vdw/WirtschaftsarchivdesJahres2002.pdf

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