D I E H A U T A U F D E R M I L C H
Pharmakonzerne und Ärzte: Geschichte einer Korruption*
Bass, Alison (2008): Side Effects: A Prosecutor, a Whistleblower, and a Best-selling Antidepressant on Trial. Algonquin Books of Chapel Hill, 260 S. Petersen, Melody (2008): Our Daily Meds: How the Pharmaceutical Compa-nies Transformed Themselves into Slick Marketing Machines and Hooked the Nation on Prescription Drugs. Sarah Crichton/Farrar, Straus and Giroux, 432 S. Lane, Christopher (2008): Shyness: How Normal Behavior Became a Sickness. Yale University Press, 263 S.
Der untenstehende Text kommentiert anhand der drei oben angeführten Publikationen von Bass, Petersen und Lane die politischen Zusammenhänge zwischen medizinischen Fakultäten, Pharmakonzernen und deren Interessen und der Wissenschaft – alle drei schneiden bei dieser Analyse sehr schlecht ab, die Mediziner als korrupt, die Pharmafirmen als unbekümmert um die Wis-senschaft und die Wissenschaft selbst als weniger wahr als ein verkrümmtes Produkt aus dem politischen Abgleichen von Interessen und der Neuentwick-lung von Märkten für neue Krankheiten.
Zwar mag man das alles irgendwie gefühlt haben, hier aber steht es mit
Zahlen und Namen und Daten, geschrieben von Marcia Angell, der ehemali-gen Herausgeberin eines der führenden medizinischen Mainstream-Journals, des New England Journal of Medicine. Und es gehört nicht sehr viel Phantasie dazu, die Extrapolation von den USA nach Europa vorzunehmen.
Seit kurzem recherchiert Senator Charles Grassley, seines Zeichens republi-kanisches Mitglied des Finanzausschusses des Senats, über finanzielle Ver-bindungen zwischen der Pharmaindustrie und den Medizinprofessoren, die bekanntlich den Marktwert der verschreibungspflichtigen Medikamente weit-gehend bestimmen. Er wurde schnell fündig.
Zum Beispiel bei Joseph L. Biedermann, Psychiatrieprofessor an der medi-
zinischen Fakultät der Universität Harvard und Leiter der Kinderpsycho-
Marcia Angell, The New York Review of Books, 2009. Der Text ist unter dem Titel »Drug Companies & Doctors: A Story of Corruption« in Bd. 56, No. 1, 15. Januar 2009, des New York Review of Books erschienen. Übersetzung mit freundlicher Genehmi-gung des Verlages und der Autorin.
Der wahrscheinlich unglaublichste Fall, der bislang von Senator Grass-
ley aufgedeckt wurde, betrifft Dr. Charles B. Nemeroff, den Vorsitzenden der psychiatrischen Abteilung der Emory University und Ko-Autor des führenden Textbook of Psychopharmacology2 (zusammen mit Schatzberg).3 Nemeroff war Forschungsleiter in einer vom National Institute of Mental Health mit 3,95 Millionen Dollar – 1,35 Millionen davon erhielt die Emo-ry University zur Unkostendeckung – subventionierten Untersuchung von mehreren durch GlaxoSmithKline (GSK)4 hergestellten Medikamenten. Um den Bestimmungen sowohl der Universität als auch der Regierung zu genü-gen, wurde Nemeroff aufgefordert, Emory die Einnahmen durch Glaxo-SmithKline anzugeben, und die Universität Emory ihrerseits wurde aufge-fordert, den National Institutes of Health Beträge von über 10.000 Dollar jährlich zu melden, sowie zuzusichern, dass Interessenkonflikte bewältigt oder eliminiert würden.
Bei einem Vergleich der Akten von Emory und jenen des Unternehmens
fand Senator Grassley jedoch, dass Nemeroff es unterlassen hatte, unge-fähr 500.000 Dollar an Honoraren zu melden, die er von GlaxoSmith Kline für Dutzende von Werbevorträgen für ihr Medikament erhalten hatte. Im Juni 2004, nach Ablauf eines Jahres, untersuchte Emory die Aktivitäten Nemeroffs auf eigene Faust und fand heraus, dass dieser sich in mehreren Fällen nicht an ihre Richtlinien gehalten hatte. In einem Memorandum ant-wortete Nemeroff, dass »ich im Falle des NIMH/Emory/GSK-Stipendiums die Honorare für meine Beratungstätigkeit bei GSK auf unter 10.000 Dollar jährlich begrenzen werde und GSK diesbezüglich informiert habe.« Gleich-wohl erhielt er im selben Jahr vom Unternehmen 171.031 Dollar und gab bei Emory 9.999 US-Dollar an – genau einen Dollar unter der Grenze, um seinen Zuverdienst den National Institutes of Health noch angeben zu können.
Emory profitierte natürlich ihrerseits von Nemeroffs Stipendien und sei-
nen anderen Unternehmungen, und damit stellt sich die Frage, wie sehr die lasche Aufsichtsführung der Universität durch eigene Interessenkonflikte beeinflusst wurde. Wie Gardiner Harris in der New York Times berichtete,5 hatte Nemeroff im Jahr 2000 in einem Schreiben an den Dekan der medizini-schen Fakultät seine Mitgliedschaft in einem Dutzend Beratungssausschüs-sen mit seinem hohen Stellenwert für Emory gerechtfertigt:
Alan F. Schatzberg & Charles B. Nemeroff (2000): Textbook of Psychopharmacology. Arlington: American Psychiatric Publishing, 4. Auflage 2009. – Anm. d. Red.
Die meisten Informationen dieser Absätze, einschließlich Nemeroffs Zitat vom Sommer 2004, sind einem langen Brief von Senator Grassley vom 2. Oktober 2008 an James W. Wagner, dem Präsidenten der Emory Universität, entnommen.
4 GlaxoSmithKline ist mit 42,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz (2008) heute der
viertgrößte Pharmakonzern der Welt. – Anm. d. Red.
Siehe Gardiner Harris: Leading Psychiatrist Didn’t Report Drug Makers’ Pay, in: The New York Times, 4. Oktober 2008.
Bestimmt erinnern Sie sich daran, dass Smith-Kline Beecham Pharmaceuticals6 der Abtei-lung einen Lehrstuhl gestiftet hat, und es gibt Grund zur Annahme, dass Janssen Phar-maceutica7 ihnen darin folgen wird. Des weiteren hat Wyeth-Ayerst Pharmaceuticalin8 derselben Abteilung ein Berufsförderungsprogramm finanziert, und ich habe sowohl AstraZeneca Pharmaceuticals9 als auch Bristol-Myers Squibb10 um dasselbe gebeten. Dass sie unsere Fakultät in solchem Umfang finanziell unterstützen, ist zum Teil meinem Ein-satz in diesen Ausschüssen zu verdanken.
Zwar fanden die von Senator Grassley herausgegriffenen Psychiater in der Presse besondere Beachtung, aber der ganze ärztliche Berufsstand ist von ähn-lichen Interessenkonflikten durchdrungen. (Gegenwärtig hat der Senator die Kardiologen im Visier). Tatsächlich nehmen die meisten Ärzte – in welcher Form auch immer – Geld oder Geschenke von Pharmaunternehmen entgegen. Viele von ihnen sind Konsiliarärzte, Redner auf von Konzernen gesponser-ten Tagungen, Ghostwriter von Vorträgen der Pharmakonzerne oder ihrer Kundenaquisiteure11, sowie sogenannte »Forscher«, deren Beitrag häufig lediglich darin besteht, ihren Patienten ein Medikament zu verschreiben und dem Unternehmen irgendwelche symbolischen Informationen zu liefern. Eine noch grössere Anzahl von Ärzten erhält Gratis-Diners und andere ausgeklü-gelte Geschenke. Zudem subventionieren die Pharmaunternehmen die meisten Tagungen von Berufsverbänden sowie den Grossteil der Weiterbildungen, an denen die Ärzte teilnehmen müssen, um ihre staatliche Praxisbewilligung zu behalten.
Der genaue Umfang der Zahlungen von Pharmaunternehmen an Ärzte ist
niemandem bekannt, aber aufgrund der jährlichen Berichte der neun bedeu-
6 Der Pharmakonzern SmithKline Beecham, 1989 aus der Fusion der Beecham Group
(gegr. 1945) mit Smith Kline & French (gegr. 1875) hervorgegangen, fusionierte 2000 mit dem Konzern Glaxo Wellcome, der 1995 aus der Fusion von Burroughs Wellcome & Company (gegr. 1880) und Glaxo (gegr. 1904) hervorgegangen ist, zu GlaxoSmithKline. – Anm. d. Red.
Janssen Pharmaceutica N.V., 1953 gegründet, ist heute Teil des Pharmazie- und Kon-sumgüterherstellers Johnson & Johnson (gegr. 1886, im Pharmabereich 37,0 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz in 2008). – Anm. d. Red.
Wyeth (gegr. 1926 als American Home Products), in 2008 mit 20,35 Milliarden US-Dol-lar Jahresumsatz der elftgrößte Pharmakonzern der Welt. Wenige Tage nach Erschei-nen dieses Artikels, am 26. Januar 2009, gab der Pharmakonzern Pfizer (gegr. 1949, 48,3 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz in 2008) die Übernahme von Wyeth für einen Übernahmewert von rund 68 Milliarden US-Dollar bekannt. – Anm. d. Red.
AstraZeneca, 1999 aus der Fusion der schwedischen Astra AB und der britischen Zeneca Group hervorgegangen, steht mit 26,5 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz (2008) auf Rang 8 der weltgrößten Pharmakonzerne. – Anm. d. Red.
10 Bristol-Myers Squibb (BMS) ist 1989 aus der Fusion von Bristol-Myers (gegr. 1887) und
der Squibb Corporation (gegr. 1858) hervorgegangen; 17,9 Milliarden US-Dollar Jahres-umsatz in 2008. – Anm. d. Red.
11 Grassley forscht derzeit den Zahlungen nach, die Wyeth an eine medizinische
Schreibagentur für Ghostwriting von gefälligen Artikeln über sein Hormonersatzprä-parat Prempro geleistet hat.
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tendsten US-Pharmaunternehmen schätze ich, dass es sich um mehrere zehn Milliarden Dollar pro Jahr handelt. Dadurch hat die Pharmaindustrie eine enorme Kontrolle darüber, wie Ärzte deren Produkte beurteilen und einset-zen. Ihre extensiven Beziehungen zu Ärzten, vor allem zu den hochrangigen Fakultätsmitgliedern an renommierten medizinischen Hochschulen, beein-flussen die Forschungsergebnisse, die ärztliche Praxis und sogar die Definiti-on der Krankheiten.
Beachten wir die klinischen Versuche, in denen Medikamente an Menschen
getestet werden.12 Bevor ein neues Medikament auf den Markt kommt, muss sein Hersteller klinische Versuche sponsern, um der Food and Drug Admini-stration Beweise für seine Unschädlichkeit sowie seine Wirksamkeit zu erbrin-gen, üblicherweise durch einen Vergleich des Medikaments mit Placebos oder Pillenattrappen. Die Ergebnisse aller dieser (manchmal zahlreichen) Versuche werden der FDA unterbreitet, und wenn ein oder zwei Versuche positiv ausfal-len – d. h. wenn das Medikament wirksam ist und ernsthafte Nebenwirkungen ausgeschlossen werden können –, wird es gewöhnlich zugelassen, auch wenn alle anderen Versuche negative Resultate erzielen. Die Medikamente werden nur zu einem spezifischen Zweck zugelassen – z. B. zur Behandlung von Lun-genkrebs – und den Unternehmern ist es gesetzlich untersagt, das Medikament für irgendeinen anderen Zweck zu empfehlen.
Den Ärzten aber ist es erlaubt, Medikamente »off-label«, d. h. ohne Rück-
sicht auf einen spezifischen Anwendungsbereich, zu verschreiben – und es ist anzunehmen, dass mindestens die Hälfte der Ärzte von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Nachdem die Medikamente auf dem Markt sind, setzen die Unternehmen ihr Sponsoring fort, manchmal, um von der FDA die Bewilli-gung für zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten zu erhalten, manchmal auch, um Konkurrenten gegenüber ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Oft dient dies lediglich als Vorwand dafür, die Ärzte zur Verschreibung solcher Medi-kamente zu veranlassen. Solche Versuche heissen treffend »seeding studies«.
Da die Pharmaunternehmen keinen direkten Zugriff auf Testpersonen
haben, müssen sie ihre klinischen Versuche in medizinische Fakultäten ver-legen, wo die Forscher ihre Studien entweder an Patienten aus Universitäts-spitälern und Kliniken durchführen oder private Forschungsunternehmen (CROs)13 beauftragen, welche Praxisärzte dazu auffordern, ihre Patienten anzumelden. Obwohl die CROs gewöhnlich schneller arbeiten, ziehen die Sponsoren meistens die medizinische Fakultät einer Universität vor, einer-seits, weil dort die Forschung seriöser betrieben wird, hauptsächlich aber, weil sie dort besseren Zugriff auf äusserst einflussreiche Professoren der Medizin
12 Einige dieser Informationen sind meinem Artikel »Industry-Sponsored Clinical
Research: A Broken System«. The Journal of the American Medical Association, 3. Sep-tember 2008, entnommen.
13 CROs: Contract Research Organizations, auch Clinical Research Organization, sind
Dienstleitungsunternehmen für die pharmazeutische Industrie und an der medizini-schen Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln beteiligt. – Anm. d. Red.
haben – die in der Sprache der Pharmaindustrie als »thought leaders« oder »key opinion leaders« (KOLs) bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Personen, die Lehrbücher und Artikel in medizinischen Journalen verfassen, Praxisrichtlinien (practice guidelines) erstellen (treatment recommendations, zu deutsch: Behandlungsvorschläge), Vorsitzende in der FDA oder in anderen Beratungsausschüssen der Regierung sind, Fachgremien vorsitzen und an den unzähligen jährlich stattfindenden Tagungen und Diners Vorträge halten, an denen Ärzte in der Anwendung der verschreibungspflichtigen Medikamente geschult werden. KOLs wie Dr. Biedermann auf der Gehaltsliste zu haben, zahlt sich reichlich aus.
Vor einigen Jahrzehnten waren die finanziellen Beziehungen der medizini-
schen Fakultäten zur Industrie noch unerheblich, und Forschende der Fakul-täten, die von der Industrie gesponserte Untersuchungen durchführten, stan-den gewöhnlich in keiner anderen Beziehung zu ihren Sponsoren. Aber heute haben die Universitäten ihre eigenen vielfältigen Abkommen mit der Industrie und sind somit kaum in der moralischen Position, etwas dagegen einzuwenden, wenn sich ihre Fakultäten ebenso verhalten. In einer kürzlich verfassten Stu-die stellte sich heraus, dass medizinische Zentren der Universitäten in einem Beteiligungsverhältnis mit den Unternehmen stehen, die innerhalb derselben Institution Forschung betreiben.14 Eine Umfrage bei Lehrstuhlinhabern an medizinischen Fakultäten ergab, dass zwei Drittel von ihnen von den Phar-maunternehmen Einnahmen zuhanden der Abteilungen und drei Fünftel von ihnen persönliches Einkommen erhielten.15 In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts begannen die medizinischen Fakultäten der Universitäten damit, Richtlinien zur Regulierung von fakultätsinternen Interessenkonflikten zu erstellen, die aber äusserst variabel und gewöhnlich sehr tolerant sind und, was ihre Durchsetzung betrifft, recht locker gehandhabt werden.
Weil die Pharmaunternehmen ihre finanzielle Unterstützung nur unter
der Bedingung zusichern, dass sie in alle Bereiche der gesponserten Forschung einbezogen werden, können sie ihre Statistiken problemlos so verzerren, dass ihre Medikamente wirksamer und ungefährlicher erscheinen als sie es in Wirklichkeit sind. Vor den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren die Forschenden der Fakultät gewöhnlich für ihr Vorgehen allein verantwortlich; heute aber sind es häufig Angestellte oder Beauftragte der Unternehmen, die die Studien entwerfen und analysieren, die Artikel schreiben sowie entschei-den, ob und in welcher Form die Ergebnisse publiziert werden sollen. Manch-mal sind die Forschenden an den medizinischen Fakultäten nichts anderes als Hilfsarbeiter, die gemäss den Anweisungen der Unternehmen Patienten zur Verfügung stellen und Daten sammeln.
14 Justin E. Bekelman et al.: Scope and Impact of Financial Conflicts of Interest in Biome-
dical Research: A Systematic Review. The Journal of the American Medical Association, 22. Januar 2003.
15 Eric G. Campbell et al.: Institutional Academic–Industry Relationships. The Journal of the American Medical Association, 17. Oktober 2007.
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Angesichts dieser Kontrolle sowie der Interessenkonflikte in den Unter-
nehmen erstaunt es nicht, dass in von der Pharmaindustrie gesponserten Stu-dien, die in medizinischen Journalen publiziert werden, durchwegs die gespon-serten Medikamente favorisiert werden. Dies vor allem darum, weil negative Ergebnisse gar nicht, positive jedoch wiederholt in leicht abgeänderter Form veröffentlicht werden und sogar negativen Ergebnissen positiv interpretiert werden können. So stellte sich zum Beispiel in einer Besprechung von 74 klini-schen Versuchen mit Antidepressiva heraus, dass 37 von 38 der positiven Studi-en veröffentlicht worden waren.16 Von den 36 Studien mit negativem Resultat wurden aber 33 entweder gar nicht oder aber in einer Form publiziert, aus der man ein positives Resultat ableiten konnte. Es ist bei veröffentlichten Artikeln nichts Ungewöhnliches, den Schwerpunkt statt auf die (ursprünglich) beab-sichtigte Wirkung auf eine positive Nebenwirkung zu verlagern.
Die Unterdrückung negativer Forschungsergebnisse ist der Gegenstand
von Alison Bass’ fesselndem Buch Side Effects: A Prosecutor, a Whistleblower, and a Bestselling Antidepressant on Trial. Es ist die Geschichte des Britischen Pharmagiganten GlaxoSmithKline, der im Falle von Paxil, seinem Verkaufs-schlager unter den Antidepressiva, Beweise der Unwirksamkeit und mutmas-slichen Schädlichkeit bei Kindern und Jugendlichen unterdrückt hat. Bass, vormals Berichterstatterin der Boston Globe, beschreibt die Beteiligung von drei Personen – eines skeptischen Professors der Psychiatrie, eines moralisch entrüsteten Assistenten des Verwaltungsrats an der Psychiatrie-Abteilung der Brown University (dessen Präsident im Jahre 1998 von Pharmaunternehmen, einschliesslich GlaxoSmithKline, über 500.000 US-Dollar an Beratungsho-noraren bekommen hat) und eines hartnäckigen stellvertretenden Justizmi-nisters. Sie liessen sich auf einen Kampf mit GlaxoSmithKline und einem Teil der psychiatrischen Institutionen ein und konnten sich schliesslich entgegen aller Wahrscheinlichkeit durchsetzen.
Das Buch beschreibt den jahrelangen persönlichen Kampf jener drei Per-
sonen, der darin gipfelt, dass sich GlaxoSmithKline 2004 schliesslich in einer aussergerichtlichen Einigung mit einer Zahlung von 2,5 Millionen Dollar ein-verstanden erklärte (damals ein winziger Anteil ihres Ertrags von über 2,8 Milliarden Dollar aus dem Verkauf von Paxil), um ein Strafverfahren wegen Konsumententäuschung abzuwenden. GlaxoSmithKline versprach zudem, Zusammenfassungen aller klinischen Versuche, die nach dem 27. Dezember 2000 abgeschlossen worden waren, freizugeben. Von weit grösserer Tragwei-te war jedoch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die vorsätzliche, systematische Unterdrückung negativer Forschungsresultate, eine Tatsache, die ohne jenen juristischen Ermittlungsvorgang nicht enthüllt worden wäre. In einem bisher unveröffentlichten internen Dokument von GlaxoSmith Kline war zu lesen: »Es wäre marktwirtschaftlich inakzeptabel, ein Statement mit
16 Erick H. Turner et al.: Selective Publication of Antidepressant Trials and Its Influence
on Apparent Efficacy. The New England Journal of Medicine, 17. Januar 2008.
dem Nachweis der Unwirksamkeit abzugeben, weil damit das Profil von Par-oxetine (Praxil) untergraben würde«17.
Viele Medikamente, die als wirksam gelten, sind wahrscheinlich wenig
besser als Placebos. Dies zu erfahren, ist aber nicht möglich, weil negative Ergebnisse unterschlagen werden. Auf diesen Tatbestand haben vor sechs Jah-ren vier Forscher hingewiesen, nachdem sie unter Berufung auf den Freedom of Information Act (FOIA)18 von der FDA Berichte über alle placebokontrol-lierten klinischen Versuche erhalten konnten, welche ihr für eine vorläufige Zulassung der sechs am häufigsten angewendeten Antidepressiva – die schlies-slich zwischen 1987 und 1999 definitiv zugelassen wurden – vorgelegt worden waren: Prozac, Paxil, Zoloft, Elexa, Serzone und Effexor.19 Sie fanden, dass der Unterschied zwischen Medikament und Placebo im Durchschnitt zu klein war, um wirklich klinisch signifikant zu sein. Die Ergebnisse waren bei allen sechs Medikamenten ähnlich: alle waren gleichermassen unwirksam. Weil aber positive Resultate publiziert und negative unterschlagen wurden (in diesem Fall innerhalb der FDA), vertrauten die Öffentlichkeit und der Ärztestand auf die Wirksamkeit dieser Antidepressiva.
Klinische Versuche lassen sich auch beeinflussen, indem Forschungs-
anordnungen im Hinblick auf für die Sponsoren günstige Resultate gewählt werden. So wird zum Beispiel das gesponserte Medikament mit einem anderen verglichen, das aber niedrig dosiert ist, so dass ersteres wirksamer scheint. Oder ein Medikament, das eher für ältere Personen bestimmt ist, wird an jungen getestet, damit weniger Nebenwirkungen auftreten. Ein übli-cher Weg, verzerrende Resultate zu erzielen, stammt aus der Standardpraxis, ein neues Medikament mit einem Placebo zu vergleichen, obwohl die rele-vante Frage eigentlich ist, wie es im Vergleich mit einem bereits existierenden Medikament abschneidet. Kurz gesagt ist es häufig möglich, bei klinischen Versuchen das jeweils angestrebte Ergebnis zu erzielen, und darum ist es so wichtig, dass die Forscher in bezug auf die Ergebnisse völlig unvoreinge-nommen vorgehen.
Interessenkonflikte beeinflussen mehr als nur die Forschung. Ihr Einfluss
auf die von Berufsstand und Regierung erstellten Richtlinien sowie auch ihre Auswirkung auf die Entscheidungen der FDA sind unmittelbar prägend für die medizinische Praxis. Ein paar Beispiele: In einer Übersicht über zweihun-dert Expertenausschüsse, die Praxisrichtlinien erstellten, räumte ein Drittel der Mitglieder ein, dass bei den von ihnen vorgeschlagenen Medikamenten
17 Siehe Wayne Kondro und Barb Sibbald: Drug Company Experts Advised Staff to Withhold
Data About SSRI Use in Children. Canadian Medical Association Journal, 2. März 2004.
18 Gesetz über die Auskunftspflicht öffentlicher Einrichtungen. – Anm. d. Ü. 19 Irving Kirsch et al.: The Emperor’s New Drugs: An Analysis of Antidepressant Medica-
tion Data Submitted to the US Food and Drug Administration, in: Prevention & Treat-ment, 15. Juli 2002. – Die Wirkstoffe der Antidepressiva sind Fluoxetin (Prozac), Par-oxetin (Paxil, in Europa: Seroxat), Sertralin (Zoloft), Citalopram (Elexa), Nefazodone (Serzone), Venlafaxin (Effexor). – Anm. d. Red.
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finanzielle Interessen eine Rolle gespielt hätten.20 Im Jahre 2004, nachdem das National Cholesterol Education Program (NCEP) dazu aufrief, den bisher maximal zulässigen Grad von »schlechtem« Cholesterin drastisch zu senken, stellte sich heraus, dass acht von neun Mitgliedern des Ausschusses, die für diese Empfehlung verantwortlich zeichneten, mit den Herstellern von Cho-lesterin senkenden Medikamenten finanziell verbunden waren.21 Von den 170 Autoren der neuesten Ausgabe des Dignostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Associaton hatten 95 finanziel-le Beziehungen zu Pharmaunternehmen, darunter alle Autoren der Kapitel über Affektstörungen und Schizophrenie.22 Und entscheidend ist vermutlich die Tatsache, dass viele Mitglieder der ständigen Expertenkommission, welche die FDA bei der Zulassung von Medikamenten beraten, finanzielle Bande zur Pharmaindustrie haben.23
In den letzten Jahren haben die Pharmaunternehmen eine neue, hoch wirksa-me Methode perfektioniert, um neue Märkte zu erschließen. Statt für Medi-kamente zur Behandlung von Krankheiten zu werben, haben sie damit begon-nen, Krankheiten ihren Medikamenten anzupassen. Sie verfolgen die Strategie, möglichst viele Personen (und natürlich deren Ärzte) zu überzeugen, dass sie an Beschwerden leiden, welche langfristige medikamentöse Behandlung erfordern. Diese Strategie, manchmal »disease-mongering« (zu deutsch etwa: »Krankheitshandel«) genannt, ist der Schwerpunkt von zwei neuen Büchern: Melody Petersens Our Daily Meds: How the Pharmaceutical Companies Transformed Themselves into Slick Marketing Machines and Hooked the Nati-on on Prescription Drugs und Christopher Lanes Shyness: How Normal Beha-vior Became a Sickness.
Um für neue oder dramatischere Beschwerden zu werben, werden diese mit
ernst klingenden Namen einschliesslich deren Abkürzungen versehen. Dem-nach heisst Sodbrennen jetzt »gastroesophageal reflux disease« oder GERD24; Impotenz heisst »erectile dysfunktion« oder ED25, prämenstruelle Spannungs-zustände heissen »premenstrual dysphoric disorder« oder PMDD (präsmen-
20 Rosie Taylor und Jim Giles: Cash Interests Taint Drug Advice. Nature, 20. Oktober
2005. – Die Wirkstoffe der Antidepressiva sind Fluoxetin (Prozac), Paroxetin (Paxil, in Europa: Seroxat), Sertralin (Zoloft), Citalopram (Elexa), Nefazodone (Serzone), Ven-lafaxin (Effexor). – Anm. d. Red.
21 David Tuller: Seeking a Fuller Picture of Statins, in: The New York Times, 20. Juli 2004. 22 Lisa Cosgrove et al.: Financial Ties Between DSM-IV Panel Members and the Phar-
maceutical Industry. Psychotherapy and Psychosomatics, 75, S. 154-160, 2006.
23 Am 4. August 2008 gab die FDA an, dass 50.000 US-$ die »höchste persönliche Kapi-
talbeteiligung, die einem Berater in allen Gesellschaften, die er durch ein persönliches Treffen beeinflußt haben mag, erlaubt ist.« Waivers ist möglicherweise durch geringere Beträge begünstigt worden.
24 Dt. Gastroösophageale Refluxkrankheit, ICD-10: K21. – Anm. d. Red. 25 Dt. Erektile Dysfunktion, Versagen genitaler Reaktionen, ICD-10: F52.2 – Anm. d. Red.
struelle dysphorische Störung)26, und Schüchternheit ist »social anxietydis-order« (noch keine Abkürzung)27. Notabene handelt es sich hier um schlecht definierte chronische Beschwerden von meist normalen Personen, wodurch der Markt enorm ist und leicht vergrößert werden kann. Beispielsweise riet ein leitender Marketing-Manager dazu, den Anwendungsbereich von Neuron-tin folgendermassen zu erweitern: »Neurontin für Schmerzen, Neurontin für Monotherapie, Neurontin für bipolare Störungen, Neurontin für alles«28.
Wie es scheint, verfolgen die Vermarkter von Medikamenten die – aus-
sergewöhnlich wirksame – Strategie, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass es nur zwei Arten von Menschen gibt: solche mit Krankheiten, welche medikamentöse Behandlung erfordern, und solche, die dies noch nicht wissen. Obwohl diese Strategie ihren Ursprung in der Industrie hat, hätte sie sich ohne Komplizenschaft des Ärztestandes nicht durchsetzen können.
Melody Petersen, ehemals Berichterstatterin der New York Times, hat eine
ausführliche, überzeugende Anklageschrift gegen die Pharmaindustrie ver-fasst.29 Sie stellt darin detailliert die vielen legalen und illegalen Methoden dar, mit denen die Pharmaunternehmen »Blockbuster« (Medikamente mit Ver-kaufszahlen von jährlich über einer Milliarde Dollar) erzeugen können, und betont die hierfür unentbehrliche Rolle der KOLs. Ihr Hauptbeispiel ist Neu-rontin, das anfänglich nur für einen sehr engen Anwendungsbereich zugelas-sen wurde: für die Behandlung von Epilepsie, falls die Anfälle mit anderen Medikamenten nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. Es gelang dem Hersteller, aus diesem Medikament einen Blockbuster zu machen, indem der Hersteller Fachspezialisten an den Universitäten dafür bezahlte, Artikel zu unterzeichnen, in welchen Neurontin für andere Zwecke angepriesen wurde – etwa bipolare Störungen, posttraumatische Stresserkrankungen, Schlaflo-sigkeit, Restless-Legs-Syndrom, Hitzewallungen, Migräne, Spannungskopf-schmerzen und andere mehr. Auch durch die finanzielle Unterstützung von Kongressen, bei denen für die oben erwähnten Anwendungsbereiche gewor-
26 Die präsmenstruelle dysphorische Störung (PMDD), als dramatische Form des prämen-
struellen Syndroms (PMS, ICD-10: N94.3) beschrieben, ist im ICD-10 GM 2010 noch nicht eigens klassifiziert. – Anm. d. Red.
27 Social anxiety disorder, dt. soziale Phobie, ICD-10: F40.1 (im Kindesalter: ICD-10:
F92.3), nach DSM-IV: 300.23. Diese Störung wird in Amerika neuerdings mit SAD oder SanD, auch SA (social anxiety) oder SP (social phobia) abgekürzt. – Anm. d. Red.
29 Petersens Buch ist Teil einer zweiten Reihe von Büchern, die die trügerischen Praktiken
der Pharmaindustrie aufdecken. Zu ersten Welle solcher Bücher gehörten The Big Fix: How the Pharmaceutical Industry Rips Off American Consumers von Katharine Grei-der (Public Affairs, 2003), The $800 Million Pill: The Truth Behind the Cost of New Drugs von Merrill Goozner (University of California Press, 2004), Powerful Medicines: The Benefits, Risks, and Costs of Prescription Drugs von Jerome Avorn (Knopf, 2004), Overdo$ed America: The Broken Promise of American Medicine von John Abramson und mein eigenes Buch The Truth About the Drug Companies: How They Deceive Us and What to Do About It (Random House, 2004).
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ben wurde, schnellten die Verkaufszahlen des Medikaments im Jahre 2003 auf 2,7 Milliarden Dollar hoch. Im folgenden Jahr berichtete Petersen exklusiv für die Times über einen Fall, bei dem Pfizer30 sich in bezug auf den Vorwurf des illegalen Marketings schuldig bekannt und sich bereit erklärt hatte, 430 Millio-nen US-Dollar für strafrechtliche und zivile Klagen zu bezahlen. Das ist viel Geld, aber für Pfizer gehörte dies lediglich zum Geschäft, das sehr lohnens-wert war, da Neurontin weiterhin wie ein Allerweltsheilmittel angewendet wurde, mit einem jährlichen Verkaufsertrag von mehreren Milliarden Dollar.
Christopher Lanes Buch hat einen enger umrissenen Schwerpunkt: die
rasante Zunahme psychiatrischer Diagnosen in der amerikanischen Bevölke-rung und der therapeutische Einsatz von psychoaktiven Medikamenten (Medi-kamente, welche den Gemütszustand beeinflussen). Da es keine objektiven Tests für Geisteskrankheit gibt und die Grenzen zwischen normal und anor-mal häufig fliessend sind, bietet die Psychiatrie einen besonders fruchtbaren Boden, um neue Diagnosen zu erschaffen oder herkömmliche zu erweitern. 31 Die neueste Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Dis-orders ist fast ausschliesslich diagnostischen Kriterien vorbehalten. Es handelt sich dabei um eine Publikation eines Forums von Psychiatern, deren Mehr-zahl, wie ich oben erwähnt habe, finanzielle Beziehungen zur Pharmaindustrie pflegt. Lane, Professor für Literaturwissenschaft an der North western Uni-versity, verfolgt die Entwicklung des DSM von seinen bescheidenen Anfän-gen im Jahre 1952 als kleines, spiralgebundenes Handbuch (DSM I) bis hin zur aktuellen 943-seitigen »Inkarnation« (die revidierte Fassung von DSM-IV) als unbestrittene »Bibel« der Psychiatrie – das Standardhandbuch der Gerichte, Gefängnisse, Schulen, Versicherungsgesellschaften, Notaufnahmen, Arztpra-xen und medizinischen Einrichtungen aller Art.
Angesichts seiner Bedeutung wäre es naheliegend zu glauben, das DSM
sei ein verbindliches Destillat aus einer grossen Menge wissenschaftlicher Beweise. Lane zeigt jedoch anhand von unveröffentlichten Aufzeichnungen aus den Archiven der American Psychiatric Association und Interviews mit den Direktoren auf, dass es sich dabei vielmehr um ein komplexes Gefüge aus akademischer Politik, politischen Ambitionen, Ideologien, und – was vielleicht am wichtigsten ist – dem Einfluss der Pharmaunternehmen – handelt. Dem DSM mangelt es an Beweisen. Lane zitiert einen Mitarbeiter der DSM-III Task Force:
Es wurde sehr wenig systematische Forschung betrieben und ein Grossteil davon war genau gesehen ein Mischmasch – weitverstreut, inkonsistent und zweideutig. Ich denke, die Mehrzahl von uns erkannte, dass wir unsere Entscheide aufgrund einer bescheidenen Anzahl wissenschaftlich solider Erkenntnisse gefällt hatten.
30 Pfizer Inc., 1849 gegründet mit Sitz in New York, zählt mit 48,3 Milliarden US-Dollar
Jahresumsatz (2008) zu den grössten Pharmakonzernen der Welt. – Anm. d. Red.
31 Siehe Frederick Crews Besprechung von Lanes Buch und zwei anderen, Talking back to
Prozac, The New York Review of Books, 6. Dezember 2007.
Lane schildert anhand des Falles der Schüchternheit, wie in der Psychiatrie mit der Angst vor Krankheiten Geschäfte gemacht werden. Ihr Debüt als psychische Krankheit hatte Schüchternheit als – selten auftretende – »soziale Phobie« im DSM-III von 1980. 1994, als DSM-IV veröffentlicht wurde, war daraus eine äusserst häufig vorkommende »soziale Angststörung« geworden. Gemäss Lane hatte GlaxoSmithKline entschieden, die »soziale Angst störung« als eine »ernsthafte Erkrankung« zu promoten, um damit die Verkaufszahlen für ihr Antidepressivum, Paxil, anzukurbeln. 1999 erhielt das Unternehmen die Genehmigung der FDA, das Medikament für die soziale Angststörung auf den Markt zu bringen. GlaxoSmithKline lancierte dafür eine aufwendi-ge Werbekampagne – beispielsweise, indem man unter anderem landesweit in Busbahnhöfen Poster mit verlassen wirkenden Menschen und den Worten: »Stellen Sie sich vor, auf Menschen allergisch zu sein« anbringen liess – und die Verkaufszahlen schnellten empor. Barry Brand, der Produktmanager von Paxil, soll gesagt haben: »Der Traum jeden Vermarkters ist es, einen nicht identifizierten oder unbekannten Markt zu entdecken und ihn auszubauen. Dies ist uns bei der sozialen Angststörung gelungen.«
Psychopharmaka gehören zu den grössten Blockbustern. Ihre häufige
Anwendung wird mit der Theorie gerechtfertigt, dass psychiatrische Störungen die Folge eines biochemischen Ungleichgewichts seien, auch wenn dies noch nicht als bewiesen gilt. Kinder sind besonders schutzlose Zielobjekte. Welche Eltern trauen sich, einem Arzt zu widersprechen, der ihr schwieriges Kind als krank bezeichnet und eine medikamentöse Behandlung empfiehlt? Offenbar befinden wir uns zur Zeit inmitten einer Epidemie von bipolaren Krankheiten des Kindesalters – welche, so scheint es, attention-deficit hyperactivity disor-der (ADHD)32 ablöst, die bisher am häufigsten beschriebene Störung im Kin-desalter). Zwischen 1994 und 2003 hat diese Diagnose um ein Vierzigfaches zugenommen.33 Die Kinder werden häufig mit mehreren Medikamenten off-label (d. h. ausserhalb des Zulassungsbereichs, A. d. Ü.) gleichzeitig behandelt. Viele davon, was auch immer ihre anderen Eigenschaften sein mögen, wirken dämpfend, und die meisten haben potentiell ernsthafte Nebenwirkungen.
Die Problematik, die ich hier diskutiert habe, beschränkt sich nicht auf die
Psychiatrie, obwohl sie dort die wildesten Blüten treibt. Ähnliche Interessen-konflikte und Befangenheiten kommen in nahezu allen medizinischen Berei-chen vor, insbesondere dort, wo Medikamente und Geräte eine entscheidende Rolle spielen. Es ist schlicht unmöglich geworden, dem Grossteil der veröf-fentlichten klinischen Forschung zu glauben, sich auf das Urteil von vertrau-enswürdigen Ärzten zu verlassen und auf die Zuverlässigkeit medizinischer Richtlinien zu vertrauen. Ich freue mich nicht über diese Schlussfolgerung, die
32 ADHD, dt. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), ICD-10: F90.
33 Siehe Gardiner Harris und Benedict Carey: Researchers Fail to Reveal Full Drug Pay,
in: The New York Times, 8. Juni 2008.
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ich langsam und widerwillig während meiner zwei Jahrzehnte als Herausge-berin des New England Journal of Medicine gezogen habe.
Eine der Folgen solch weit verbreiteter Befangenheit ist unter anderem,
dass Ärzte lernen, in einer sehr medikamentenintensiven Art zu praktizieren. Auch dann, wenn eine Veränderung des Lebensstils effizienter wäre, meinen Ärzte und ihre Patienten häufig, es gäbe für jedes Wehwehchen, jedes Missbe-hagen ein Medikament. Die Ärzte sollen glauben, dass die neuesten, teuersten Markenerzeugnisse besser seien als ältere Medikamente oder Generika, auch dann, wenn diesbezüglich selten Beweise vorliegen, weil die Sponsoren ihre Medikamente gewöhnlich nicht mit älteren Medikamenten in äquivalenten Dosierungen vergleichen. Zudem lernen die Ärzte, unter dem Einfluss renom-mierter medizinischer Fakultäten, Medikamente off-label zu verschreiben, auch wenn keine stichhaltigen Beweise für ihre Wirksamkeit vorliegen.
Es wäre einfach – und sicherlich im grossen Ganzen gerechtfertigt – die
Schuld für diese Situation den Pharmaunternehmen zuzuweisen. Die meisten grossen Pharmaunternehmen haben unter anderem Klagen wegen Betrugs, Off-label-Vermarktung von Medikamenten und anderer Verstösse gegen das Recht in einer aussergerichtlichen Einigung beigelegt. Beispielsweise wurde 2001 TAP Pharmaceuticals34 schuldig gesprochen und erklärte sich mit einer Zahlung von 875 Millionen US-Dollar einverstanden, um die unter Berufung auf das Feder-al False Claims Act (Gesetz über unberechtigte Forderungen) gegen sie vorge-brachten straf- und zivilrechtlichen Klagen der betrügerischen Vermarktung von Lupron, einem bei Prostatakrebs eingesetzten Medikament, beizulegen.
Zusätzlich zu GlaxoSmithKline, Pfizer, und TAP haben andere Unterneh-
men, einschliesslich Merck35, Eli Lilly36 und Abbott37, Anklagen des Betrugs aussergerichtlich geregelt.
Obwohl die Kosten in manchen Fällen enorm sind, fallen sie im Verhält-
nis zu den Einnahmen aus diesen illegalen Aktivitäten gering aus und wirken deshalb kaum abschreckend. Dennoch mögen Apologeten einwenden, dass die Pharmaindustrie lediglich ihren Job – die Interessen ihrer Investoren zu ver-treten – erledige, und dabei gelegentlich etwas zu weit gehe.
34 TAP Pharmaceutical Products Inc., das amerikanische Tochterunternehmen der Takeda
Pharmaceutical Company, des grössten Pharmazieunternehmens Japans, wurde 1977 als Joint Venture mit dem amerikanischen Pharmakonzern Abbott Laboratories gegründet; 2008 hat Takeda TAP Pharmaceutical Products übernommen (10,3 Milliarden US-Dol-lar Jahresumsatz). – Anm. d. Red.
35 Merck & Co., ursprünglich das amerikanische Tochterunternehmen des deutschen
Pharmakonzerns Merck KgaA mit Sitz in Darmstadt, gegründet 1891 und seit 1917 vom deutschen Unternehmen unabhängig, 22,6 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz (2008). – Anm. d. Red.
36 Eli Lilly and Company, gegründet 1876, 15,7 US-Dollar Jahresumsatz in 2008, in
Deutschland unter dem Namen Lilly Deutschland vertreten. – Anm. d. Red.
37 Abbott Laboratories, gegründet 1888, mit 22,5 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz
(2008) auf Platz zehn der weltweit umsatzstärksten Pharmaunternehmen. – Anm. d. Red.
Ärzte, medizinische Fakultäten und Berufsverbände haben keine solche
Entschuldigung; ihre einzige Verantwortung ist es, im Namen ihrer Patien-ten zu handeln. Die Aufgabe der medizinischen Fakultäten und Ausbildungs-krankenhäuser – und die Rechtfertigung ihres steuerfreien Status – besteht darin, die nächste Ärztegeneration auszubilden, wissenschaftlich relevante Forschung zu betreiben und sich um die kränksten Mitglieder der Gesellschaft zu kümmern. Es ist nicht ihre Aufgabe, lukrative Geschäftsverbindungen mit der Pharmaindustrie einzugehen. Die Geschäftsgepflogenheiten der Industrie mögen verwerflich sein, ich glaube aber, dass das Verhalten des Ärztestandes noch schuldhafter ist.38 Pharmaunternehmen sind keine Wohltätigkeitsorgani-sationen; sie erwarten eine Rückleistung für das investierte Geld, und offen-sichtlich ist diese gewährleistet, sonst würden sie nicht weiter zahlen.
Es bedürfte so vieler Reformen, um die Integrität der klinischen Forschung
und der Praxis der Medizin wiederherzustellen, dass ich sie hier nicht in kurzer Form zusammenfassen kann. Viele davon würden Gesetzgebungen auf Kon-gressebene und Veränderungen in der FDA, einschliesslich ihrer Zulassungs-verfahren für Medikamente, erfordern. Aber gleichzeitig ist es unerlässlich, dass der Ärztestand fast vollständig von Geldern der Industrie unabhängig wird. Wenn auch die Zusammenarbeit von Industrie und Universität wesent-liche wissenschaftliche Beiträge generieren kann, basieren diese gewöhnlich auf Grundlagenforschung und nicht auf klinischen Versuchen – und sogar hier ist die Notwendigkeit einer persönlichen Bereicherung der Forschenden fragwürdig. Mitglieder der medizinischen Fakultäten, die klinische Versuche durchführen, sollten ausser für die finanzielle Unterstützung der Forschung keinerlei Bezahlung von Pharmaunternehmen akzeptieren. Diese Unterstüt-zung wiederum sollte an keine Bedingungen geknüpft sein, einschliesslich der Kontrolle der Pharmaunternehmen über Anordnung, Auswertung und Veröf-fentlichung der Forschungsergebnisse.
Medizinische Fakultäten und Universitätsspitäler sollten sich streng an
diese Regel halten und keine Abkommen mit Unternehmen treffen, deren Erzeugnisse von Mitgliedern ihrer Fakultät erforscht werden. Letztlich gibt es für Ärzte selten legitime Gründe, Geschenke – sogar kleine – von Pharmaun-ternehmen anzunehmen, und sie sollten die Kosten für ihre Tagungen und Fortbildungen selbst tragen.
Als Folge der vielen negativen Schlagzeilen haben medizinische Fakultäten
und Berufsorganisationen damit begonnen, über die Kontrolle von Interes-senkonflikten zu sprechen, aber bisher blieb die Resonanz mässig. So geht es konsequent um »potentielle« Interessenkonflikte – als wären diese verschie-den von realen – und darüber, sie offenzulegen und zu »bewältigen«, nicht, sie zu verbieten. Kurz gesagt, der Gestank der Korruption soll verschwinden, das
38 Diesen Gesichtpunkt hat Jerome P. Kassirer in seinem beunruhigenden Buch On the Take: How Medicine’s Complicity With Big Business Can Endanger Your Health (Oxford University Press, 2005) stark gemacht.
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Geld aber behalten werden. Damit der ärztliche Berufsstand von der Pharma-industrie unabhängig wird, braucht es mehr als das Einberufen von Komitees und andere Gesten. Es bedarf einer deutlichen Abwendung von einem lukra-tiven Verhaltensmuster. Wenn aber der ärztliche Berufsstand dieser Korrup-tion nicht freiwillig ein Ende setzt, wird er das Vertrauen der Öffentlichkeit verlieren, und die Regierung (nicht nur Senator Grassley) wird eingreifen und Rechtsvorschriften einführen. Und das will niemand, der im medizinischen Bereich arbeitet. (aus dem Englischen von Patricia Kunstenaar-Schneider, Zürich)
Adresse der AutorinMarcia Angell, Department of Global Health and Social Medicine, Harvard Medical School, 641 Huntington Avenue, Boston, MA 02115
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